Seit vergangener Woche gelten in Österreich wieder strengere Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Für uns bedeutet das, dass wir die meiste Zeit wieder in den eigenen vier Wänden verbringen. Anfangs fühlten sich die Ausgangsbeschränkungen für manche (Gesunde) vielleicht noch irgendwie nach abenteuerlichem Ausnahmezustand an, der immerhin viel Zeit schafft. Angesichts des dritten Lockdowns sind viele des eigenen Heims jedoch endgültig überdrüssig. Freund*innen und Arbeitskolleg*innen fehlen – und damit vor allem auch menschliche Inspirationsquellen.
Dass man aber die wildesten Abenteuer erleben kann, ohne einen Schritt vor die Tür zu tun, beweist der professionelle Stubenhocker im Roman Der Schmetterlingstrieb. In kurzen Kapiteln lässt Hanno Millesi seinen skurrilen Helden zu Wort kommen. Der Ich-Erzähler wohnt alleine. Langeweile kommt dabei aber keine auf: Er durchquert die Wohnung ohne Bodenberührung, spielt Verstecken im Wäschekorb, liegt unter dem Sofa, um Gesprächen zu lauschen und durchsucht von Krimis inspiriert die Zimmer nach Leichen. Wer nun die leise Vorahnung hegt, dass sich die Wirklichkeit durch die Brille des Protagonisten dem Diktat der Vernunft entzieht, der wird sich mit fortschreitender Lektüre schrittweise bestätigt fühlen.
In humorvollem, lockerem und doch konzentriertem Ton erzählt der prämierte Wiener Autor von abenteuerlichen Expeditionen mit überraschenden, teils brutalen Wendungen. Da verliert der Protagonist beim Versuch, sich als Selbstversorger durchzuschlagen, auf schmerzhafte Weise das Bewusstsein, verbrennt sich während eines Stromausfalls mit Wachs die Hand und wird sich bei der Lektüre eines Zeitungsartikels über ein gewöhnliches Wohnbauprojekt zum ersten Mal seines sicheren Todes bewusst.
Der Protagonist tritt scharfsinnig und gleichzeitig ein wenig wahnwitzig auf, was Leser*innen einen inspirierenden neuen Blickwinkel auf die eigene Wohnung eröffnet. In Anbetracht des gegenwärtigen dritten Lockdowns ist Der Schmetterlingstrieb eine ausgesprochen erbauliche Lektüre, die das verborgene, facettenreiche Potenzial und wohl auch das Privileg der eigenen vier Wände bewusst macht.
Hanno Millesi
Der Schmetterlingstrieb
Roman
ca. 136 Seiten
Erhältlich in allen Lieblingsbuchhandlungen