»Mir reicht’s. Ich hab jetzt genug vom Winter«, meint die Protagonistin Katharina in Barbara Kadletz’ Debüt Im Ruin (Februar 2021). Während im Westen Österreichs die Ski angeschnallt und Dorfwege zu Pisten umfunktioniert werden, sind die meisten Großstädter*innen wenig begeistert von der eisigen Kälte, die derzeit herrscht. In der Leseprobe auf unserem Verlagsblog wissen sich zwei Wienerinnen zu helfen, wenn’s mal wieder Zeit für wärmere Temperaturen ist …
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»Mir reicht’s«, meinte Katharina. »Ich hab jetzt genug vom Winter.«
»Dabei ist wahrscheinlich gerade erst einmal Halbzeit.« Ari sah skeptisch durch das Fenster in das leichte Schneegrieseln, das gerade wieder begonnen hatte.
»Du musst durchhalten.«
»Nö, leiden an den Umständen ist nicht meine Sache, morgen ist Sommer, ganz einfach.«
»Morgen ist Sommer?«
»Ja!« Sie nickte, während sie auch aus dem Fenster sah. Ihr verschwommenes Spiegelbild stand jetzt mitten im Schneefall.
»Aha.« Als er keine Antwort bekam, fragte er weiter. »Fährst du weg? Wie soll sich das denn ausgehen mit dem Ruin? Der Sommer ist definitiv weiter als einen Tagesausflug von hier entfernt.«
»Nein, verreisen ist viel zu anstrengend, der Sommer kommt zu mir. Easy.« Sie sah ihn an. »Kannst mich gern begleiten, durch den Sommertag!«
Er überlegte. »Ich weiß nicht, ich bin ja eher nachtaktiv.«
»Dein Pech.« Sie zuckte mit den Schultern und servierte ein Tablett mit Getränken an einen anderen Tisch.
»Ich glaub, du bist doch ein Vampir«, stellte sie fest, als sie sich wieder neben Ari in die Nische fallen ließ. »Oder wirklich auf der Flucht.«
Er lachte. »Alles möglich. Auch alles zusammen.«
»Ich hab dich tatsächlich noch nie im Tageslicht gesehen, wenn ich es mir genau überlege.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaub nicht.«
»Aber du hast ein Spiegelbild. Sie deutete an die Wand. Und du hast hier definitiv schon Knoblauch gegessen.«
»Dann kannst du die Vampirtheorie wohl doch ad acta legen«, meinte er und biss in sein Marmeladebrot. Heute gab es das Pearl-Jam-Frühstück.
»Also, wie funktioniert das mit dem Sommer genau?«, wechselte er das Thema.
»Geht dich nichts an, wenn du nicht mitkommst.«
»Okay«, sagte er schulterzuckend, »fair enough.«
Katharina ging zurück hinter den Tresen, wo eine müde Sabina lehnte.
»Ich weiß auch nicht, aber heute ist es echt schwer.«
Katharina nickte. »Zeit, dass der Sommer kommt.«
Sabinas Gesicht erhellte sich. »Machen wir denn einen Sommerausflug?«
Katharina nickte.
»Wirklich?«
»Klar, haben wir doch früher auch immer gemacht!«
»Ja schon. Aber in letzter Zeit …«
Katharina machte eine wegwerfende Handbewegung.
Anstatt einer Antwort legte sie eine neue Platte auf. »The Times They are a-Changin’« klang es durch den Raum.
Sabina nickte. »Na dann.«
Ari hörte, wie sich die beiden für den nächsten Tag verabredeten.
Er erwachte früh. Viel zu früh. Und keine Chance, wieder einzuschlafen. Sein Körper hatte einfach Lust, mit dem bisschen Helligkeit, das der Winter bot, aufzustehen. Er seufzte. Ein sehr langer Tag lag vor ihm, für den er keinerlei Ideen hatte. Obwohl. Eigentlich war es doch möglich, dass er … Aber nein, das konnte er nicht. Andererseits war er neugierig, was sie … Und vor allem: Was war die Alternative? »Ulysses« grinste ihn vom Sessel aus an. Ertappt wandte er schnell den Blick ab. Du meine Güte, jetzt ließ er sich schon von einem Buch unter Druck setzen. Er überlegte weiter. Mit einer Kapuze konnte er vielleicht auch bei Tageslicht … Ja, man könnte es probieren. Langeweile und Neugierde, dachte er, eine ziemlich fatale Kombination. Dann machte er sich pfeifend auf den Weg. Er kam sich ein wenig schäbig vor, als er sich im Windfang der U-Bahn-Station versteckte, um Katharinas und Sabinas Treffpunkt beobachten zu können.
Sie trafen sich vor dem U-Bahn-Rondo und machten sich gemeinsam auf den Weg. Er blieb einige Meter hinter ihnen und amüsierte sich über ihr Outfit. Sie trugen beide riesige Sonnenbrillen, dazu Hüte, groß wie Sombreros, und hatten jeweils eine Badematte unterm Arm.
Sie schlenderten ein Stück und blieben dann bei einem Straßenmusikanten stehen, der seinem Akkordeon Melodien gegen die Kälte abzutrotzen versuchte. Ari sah, wie sie sich mit ihm unterhielten, und plötzlich ertönte statt den bisherigen Walzermelodien eine schiefe, aber erkennbare Version von »The Girl From Ipanema«. Er pfiff mit und warf dem Musiker ein paar Münzen in den Hut, als er ihn schließlich nach den beiden passierte. Katharina und Sabina verschwanden in einem grellbunten Hauseingang, über dessen Tür groß »Sonnenbarke« stand.
Mist, was jetzt?, dachte er. Und dann, dass Solarium und Infrarotkabine eigentlich ziemlich großartig wären. Er schlich hinterher. Es würde schon klappen. Die Tresenkraft blickte nicht einmal von ihrem Handy auf, als er seine Portion Sonnenschein orderte, und so legte er sich entspannt ein paar Türen weiter in seinen eigenen Sommer. Er hatte keinen Stress, die beiden zu verlieren, denn er war sich ziemlich sicher, dass sie im Anschluss in der hauseigenen Cocktailbar einen Schirmchendrink nehmen würden. Und so war es dann auch. Er ging hinter einer Plastikpalme in Deckung und steckte seine Füße in den warmen Sand, den sie hier aufgeschüttet hatten. Wie Katharina und Sabina hatte er eine große Sonnenbrille aufgesetzt und orderte einen bunten Cocktail. Die beiden waren in ihr Gespräch vertieft. Er wunderte sich, was sie einander noch zu sagen hatten. Schließlich sahen sie sich täglich viele Stunden im Ruin. Er selbst wusste oft schon nach fünf Minuten kaum mehr, was er mit seinen Kollegen noch plaudern sollte, wenn sie das Fachliche abgehakt hatten. Langsam begann er in der angenehmen Wärme vor sich hin zu dämmern, in seinem Kopf spazierte immer noch eine windschiefe Version des hübschen Girl from Ipanema.
Als Ari die Augen wieder öffnete, fiel gerade die Tür ins Schloss. Mist, Mist, Mist, er hatte ihren Abgang verdöst. Er legte Geld auf den Tisch, beim Versuch sich überhastet die Schuhe anzuziehen, landete eine Ladung Sand in seinen Socken. Fluchend putzte er alles ab und stolperte dann aus dem Laden. Zwischen seinen Zehen bröselte es. Na, wenigstens wusste er wieder, was er am Sommer so nervig fand.
[…]
Vor ihm lag eine endlose breite Allee. Er sah sich fasziniert um, man konnte tatsächlich kein Ende erkennen. Wer hätte hier damit gerechnet? Gerade war er noch auf dieser schlimmen Autobahn gewesen und ein paar Meter weiter lag ein geheimer Garten. Wobei Garten eine maßlose Untertreibung war. Er fragte sich, ob es am ungewohnten Tageslicht lag, dass ihm alles so prächtig erschien, oder ob es tatsächlich dieser monumentale Park war, der so beeindruckte. Unter seinen Füßen knirschte der Kies, in seinen Socken nach wie vor der Sand, als er Katharina und Sabina weiter folgte. Sie hielten mittlerweile auf ein riesiges Gebäude zu. Es sah aus wie ein sehr altes, prachtvolles Gewächshaus. Kurz bevor sie es erreichten, betraten sie zu seiner Enttäuschung allerdings das unscheinbarere Gebäude gegenüber. Vor dem Eingang befand sich ein Kaktus aus Plastik. Er grinste. Da war er ja wieder, dieser verflixte Sommer.
Durch einen Perlenvorhang trat er ebenfalls ein. Vor ihm lag eine Welt aus Teppich, Wärme und lehmigem Sandboden. Na, das passte ja, er überlegte sofort, die Schuhe auszuziehen. Es roch nach hoher Luftfeuchtigkeit, irgendwo zwitscherten Vögel. Er blickte sich um. Katharina und Sabina verschwanden in diesem Moment hinter einem Plastikvorhang, in einer dunklen, feuchtwarmen Welt aus Palmen und Wüstensand. An der Kasse hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet.
Er nickte den beiden unmerklich hinterher, betrachtete noch eine Art Gecko in einem Terrarium und machte sich dann aus dem Staub. Der Sommer war ihm hier gerade etwas zu hell und zu voll. Sein Handtuch hatte auf diesem Strand keinen Platz mehr. Aber was er da draußen gesehen hatte, das reizte ihn dafür umso mehr.
Er zog sich die Kapuze tief ins Gesicht und bahnte sich seinen Weg, weg von den Touristenströmen, in denen er kurzzeitig gelandet war. Zu merkwürdigen Kugeln und Konen geschnittene Bäume säumten den Pfad, den er eingeschlagen hatte. Es wirkte, als hätte ein Riesenkind sie mit seinen Sandförmchen ausgestochen. Obenauf saß den Baumkreationen jeweils eine Haube mit Schnee, an den Springbrunnen hingen lange Eiszapfen. Irgendwie hatte er schon auch was, dieser Winter, vor allem hier, im geheimen Garten. Weiter hinten im Park begann es zunehmend einsamer zu werden. Nur noch ein paar vereinzelte Jogger quälten sich durch ihre Runden und versuchten, nicht allzu oft mit ihren teuren Schuhen in eine der leidlich zugefrorenen, eiskalten Lacken zu treten.
Wie gut, dachte er, dass er erst mal nicht joggen gehen musste. Außer er hatte Lust dazu. Und wie gut, dass das gerade für alles in seinem Leben galt, nicht nur für das Joggen. Und obwohl der echte Sommer noch so weit entfernt war, konnte er ihn gerade ein bisschen fühlen, während er sich durch die kahlen Alleen treiben ließ und warme Wolken ausatmete.
Es würde früher wieder Sommer als Winter sein. Wäre ihm in diesem Moment jemand entgegengekommen, hätte er ihn über diese Gewissheit lächeln gesehen.
»Ihr habt Farbe bekommen«, meinte er später zur Begrüßung im Ruin. »Wie war’s denn im Sommer?«
»Ach, viel zu heiß. Bin ich froh, dass eigentlich Winter ist.«
»Ja, total, viel besser so. Komplett überschätzt, so ein Sommer«, nickte Sabina, und im Hintergrund sang eine traurige Stimme leise von der Summertime Sadness.
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