Vor etwa einem Jahr hat Jorghi Poll im Antiquariat ums Eck ein altes Buch mit rotem Einband und goldener Prägung aus dem Regal gezogen. Die Welt ohne Hunger klang nach einem spannenden Buch. Der Autor Alfred Bratt – nie gehört.
Alfred Bratt (1891–1918) kennt man heute gar nicht mehr, er ist nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung seines einzigen Romans Die Welt ohne Hunger gestorben – wie hast du zu Bratt und seinem Roman recherchiert?
Jorghi Poll: Das war eine völlige Zufallsbekanntschaft. Wir waren in einem Antiquariat bei uns ums Eck, das Antiquariat Klabund, wo wir immer wieder mal für unseren Programmschwerpunkt Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts nach neuen – bzw. alten – Büchern Ausschau halten. Auf einmal leuchtet mir aus dem Regal ein roter Buchrücken entgegen: Die Welt ohne Hunger – Roman von Alfred Bratt. Der Titel klang spannend, die erste Seite fand ich gleich toll. Wir haben den Text relativ schnell gelesen und uns eigentlich sofort entschieden, das Buch neuaufzulegen. Dann begann die Recherchearbeit. Leider gibt’s über Alfred Bratt kaum etwas zu finden. In der Datenbank anno gibt es ein paar kurze Texte, die er zwischen 1912 und 1917 in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht hat. Die einzigen persönlichen Lebenszeugnisse, die es von Alfred Bratt gibt, sind drei Briefe von 1914, die in der Österreichischen Nationalbibliothek liegen. Mehr gibt’s nicht – kein Foto, keine Interviews, gar nichts. Nur diesen Roman.
Warum ist Alfred Bratt trotz des damaligen Erfolgs seines Romans so völlig in Vergessenheit geraten?
Jorghi Poll: Der Roman wurde in zwölf Sprachen übersetzt und erreichte innerhalb kürzester Zeit elf Auflagen, die letzte erschien 1917. Danach gab es meines Wissens keine weitere Ausgabe mehr. 1920 wurde der Roman noch als Stummfilm adaptiert. Für die Programmkinos wurde Die Welt ohne Hunger als »der meistgelesene Roman aller Zeiten« beworben.
Der Publikationszeitpunkt, also genau in der Mitte des Ersten Weltkriegs 1916, war eigentlich für die weltweite Verbreitung und Beachtung, sowohl in den Feuilletons als auch in der breiten Leserschaft, sehr schwierig. Die Internationalität des Romans war jedoch Teil der Weltanschauung des Berliner Café des Westens (auch Café Größenwahn genannt), in dem Bratt verkehrte, dort wollte man sich nicht aufs Nationale reduzieren. Deshalb spielt der Roman in Paris, London, New York …
Alfred Bratt ist 1918, vor Kriegsende, gestorben. Nach dem Krieg hat man sich zunächst um andere Dinge gekümmert und in die Zukunft geschaut. Der Erich Reiß Verlag, der natürlich noch mal eine Auflage hätte drucken können, ging fast pleite: 1926 hat ein Mitarbeiter riesige Summen veruntreut, davon konnte sich der Verlag finanziell nicht mehr erholen. 1938 wurde Erich Reiß im Zuge des Novemberprogroms ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht, durfte auf Druck des schwedischen Königs und Selma Lagerlöf jedoch nach Schweden emigrieren, und dann in die USA. Aber er musste alles zurücklassen. Auch über den Verlag ist kaum etwas bekannt, obwohl er einer der wichtigsten Literaturverlage seiner Zeit war und großartige und einflussreiche Autorinnen und Autoren hatte, zum Beispiel Vicki Baum, Alfred Polgar, Egon Erwin Kisch, Anton Kuh, Klabund und und und.
Das Thema des Romans ist ja nach wie vor sehr aktuell. Was sind für dich die Unterschiede zwischen 1916 und 2018?
Jorghi Poll: Der Hauptunterschied ist, dass in unserem westlichen Europa die Lage der Armut einer ganzen Gesellschaftsschicht und natürlich damit der Hunger längst nicht mehr in diesem Ausmaß vorhanden sind. Damals waren breite Gesellschaftsschichten von einer unglaublichen Armut betroffen, einer Hoffnungslosigkeit auch, ihr Leben zu gestalten, vor allen Dingen im urbanen Raum. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich die Städte im Zuge der Urbanisierung rapide vergrößert, es gab fast ausschließlich industrielle Zuwanderung, und die Menschen sind sofort in Armenvierteln gelandet, wo fürchterliche Wohnsituationen herrschten, ähnlich wie man sie heute in Armenvierteln vieler Entwicklungsländer findet. Der Hunger war natürlich damals ein elementares Problem, Fleisch war beispielsweise nur für wenige Menschen erschwinglich. Das sieht heutzutage anders aus, zumindest in Europa, wo es eine ganz andere Fragestellung gibt: Nämlich wie kann man so viele Menschen auf ethisch halbwegs adäquate Weise ernähren? Die Massentierhaltung ist ja nur ein Aspekt davon. Der Hunger ist jedoch zu einem globalen Problem geworden, das sich vor allem in die Entwicklungsländer verschoben hat, die aber von »unseren« Industrien und Konzernen genauso kapitalistisch ausgebeutet werden wie damals die Arbeiterschicht in Österreich oder Deutschland. Zum Beispiel die Textilindustrie in Bangladesch, Indien oder Pakistan. Die Konzerne bereichern sich an den Menschen, die sie für sich arbeiten lassen, und an denen, die ihre Produkte kaufen. Das ist heute nicht anders als damals.
Jorghi Poll lebt in Wien und leitet seit 2011 den Literaturverlag Edition Atelier. Den Roman Die Welt ohne Hunger hat er gemeinsam mit seinen Verlagskollegen im Sommer 2017 abgetippt, er hat versucht, so viel wie möglich über dessen Autor Alfred Bratt herauszufinden und für die Neuauflage des Romans 18 Illustrationen angefertigt.
Alfred Bratt (* 1891 in Wien, † 1918 in Berlin) war ein österreichischer Schriftsteller. 1909 ging er nach Berlin, wo er zunächst als Schauspieler, später als Dramaturg arbeitete. Ab 1912 publizierte er kurze Erzählungen in diversen Zeitungen. Während des 1. Weltkrieges wurde er Lektor im Erich Reiß Verlag. Sein Roman Die Welt ohne Hunger erschien 1916 und erzielte rasch 11 Auflagen und wurde in 12 Sprachen übersetzt. 1918 starb er mit nur 27 Jahren an einer Lungenentzündung.