Das SMS kam an einem Montagmorgen knapp nach acht Uhr. Meine Freundin war im Bad, ich saß noch beim Frühstück, im Radio die Nachrichten, als das noch lautlos geschaltete Handy vibrierte. Es lag neben meinem Teller und kam seltsam schlingernd auf mich zu, das Geräusch, ein kurzes ersticktes Kichern. Und obwohl ich von meinem Bruder seit einer Ewigkeit nichts mehr gehört hatte, wusste ich sofort, dass er es war. Warum? Ich habe einmal gelesen, dass Quanten, obwohl weit voneinander entfernt, doch auf geheimnisvolle Weise miteinander kommunizieren. Für meinen Bruder und mich gilt Ähnliches. Und ich wäre glücklicher, würde es anders sein. Würde es da keinen Draht geben zwischen uns und keine Ahnungen und ich einmal nur mich selbst spüren können. Ich wischte über das Display meines Handys und wünschte, ich könnte das SMS dadurch zum Verschwinden bringen, es zurückschießen in den Dunst des Datennirwana, aus dem es zu mir gekommen war. Aber natürlich klappte die Nachricht auf, und ich las sie einmal, zweimal und dann noch ein drittes Mal, und obwohl der Text kurz war, blieb mir die Bedeutung völlig rätselhaft.
Waren das Tage bis jetzt. Mit Ideen gespielt und mit Menschen getanzt. Und jetzt in den Süden, damit die Dinge sich klären. HG 3734. Oh brother, where art thou?
Wollte da jemand aufräumen in seinem Leben? Ordnung schaffen? Oder sogar Reue zeigen? Und wenn ja, warum? War mein Bruder ernsthaft krank und wollte mit sich und mir ins Reine kommen? Oder war das wieder nur der gewohnte, fatale Lockruf, der verführerische Flötenpfiff des hinterlistigen Rattenfängers? Mein Daumen schwebte über dem Mistkübelsymbol, lag fast auf, da war kein Millimeter mehr zwischen dem Display und meiner Haut. Der Daumen blieb aber, wo er war, und genauso das SMS. Alles beim Alten. Mein Bruder wollte, dass ich ihm nachlaufe, und es funktionierte wie eh und je. Als meine Freundin mit nassen Haaren ins Wohnzimmer kam, hatte ich schon einen Direktflug nach Agadir gebucht, denn dorthin führte, so hatte es mir das Internet verraten, Flug HG 3734.
Tafraoute liegt in einer Talsenke, alle Häuser in der Farbe der Berge, als wären sie bewohnbare Felsen, die Fortsetzung der Landschaft. Das Hotel Salama befindet sich im Zentrum des Ortes, gleich am Marktplatz. Ich stelle den Wagen ab und gehe hinein. Die Lobby ist traditionell eingerichtet, es gibt zwei lange Diwane, darauf drapiert Dutzende Polster, dahinter ein offener Kamin. Dämmriges Licht dringt durch dunkelfarbige Glasfenster. Der Mann an der Rezeption lächelt zurückhaltend. Ich grüße und frage ihn nach einem Zimmer.
Für eine Nacht oder länger?
Weiß ich noch nicht, sage ich und gebe ihm meinen Pass.
Er trägt meine Daten in sein großes Buch ein. Als er fertig ist, ziehe ich das Foto aus der Innentasche meiner Jacke.
Das ist mein Bruder. War der vor ungefähr einer Woche hier?
Der Rezeptionist nimmt das Foto und geht einen Schritt zurück in den Lichtkegel seiner matt leuchtenden Deckenlampe. Zuerst scheint er unschlüssig, dann nickt er aber.
Ja, sagt er.
Könnten Sie nachsehen, wann das war und welches Zimmer er gehabt hat?
Der Rezeptionist blättert in seinem Buch. Es geht schnell. Viele Gäste scheint das Salama in letzter Zeit nicht gehabt zu haben.
Hier, sagt er, Ihr Bruder hat in Zimmer 118 gewohnt. Er dreht das Buch zu mir, sodass ich den Eintrag lesen kann. Da steht der Name meines Bruders und dahinter die Zimmernummer 118. Über der Spalte mit dem Datum hat aber jemand seinen Kaffee ausgeschüttet. Die Eintragung ist unleserlich.
Können Sie sich vielleicht noch daran erinnern, wann mein Bruder hier war, frage ich.
Ist schon einige Tage her, vielleicht sogar eine Woche, sagt er. Er ist aber nur zwei Nächte geblieben.
Ich frage ihn, ob Zimmer 118 frei ist, und er sucht das Bord hinter sich ab. Dann nimmt er einen Schlüssel vom Haken und reicht ihn mir. Die Stiegen hinauf und dann links. Es ist das letzte Zimmer auf der rechten Seite.
Alles Gute, sagt er dann noch, so als würde mein Bruder dort oben auf mich warten.
Der Gang ist nur schwach beleuchtet, die Zimmernummern sind kaum zu erkennen. Hinter keiner der Türen sind Stimmen zu hören. Ich scheine der einzige Gast zu sein. Als ich den Schlüssel ins Schloss stecke, bin ich nervös. Als könnte mein Bruder tatsächlich da drinnen auf dem Bett sitzen.