Arbeitsstriche
In einem halbleeren Zimmer, in einem – wie war es weitergegangen?
In einem ganz vollen Raum?
Diesen Song, wann hatte sie ihn zum letzten Mal gehört?
Sie wusste es nicht mehr, befand sich aber in einem halbleeren Zimmer, saß vor einem Spiegel und wartete, auf jemanden, den sie nicht kannte. Dass es ein Mann sein würde, so viel war zumindest klar. Weiter wollte sie nicht denken.
Hätte nicht ausdrückliches Rauchverbot geherrscht, sie hätte längst alles vollgequalmt, hätte den Schauplatz mit sich selbst darin in dichte Schwaden gehüllt.
Manchmal ertrug frau ihr Spiegelbild nicht länger. Sie fing an, Fussel von ihrer Korsage zu zupfen und versuchte, alles Interieur auszublenden, bis auf den Papierkorb, der ließ sich nicht ausblenden. Gelbes Plastik, billig, schwer sauber zu kriegen, aber in einem tadellosen Zustand; später würde er nicht mehr leer sein; arbeite wann, wo und mit wem du willst. Was für ein Gedanke. Wie unpassend. Jetzt.
Früher war sie Auftragsschreibende in der belletristischen Produktion, dort galten Diskretion und die Bewahrung von Betriebsgeheimnissen als oberstes Prinzip.
Jahrelang hatte sie sich daran gehalten, einmal nur dagegen verstoßen.
Freilich wäre es klüger gewesen, nicht alle Details über die Schattentätigen im Trivialkonzern zu verraten. Dann wäre sie immer noch dort und hätte sich nicht hier wiedergefunden, wartend auf ihren ganz neuen Job.
Sie kehrte dem Spiegel entschlossen den Rücken zu, fixierte den gelben Papierkorb. Nie vorher war ihr der Grat zwischen Scheitern und Gelingen so schmal wie Zahnseide erschienen. Immerhin, sie war aus freien Stücken hier und würde danach nicht ins Detail gehen und keine Interna verbreiten, diskret bleiben.
Die leidige Frage nach ihrem Beruf hatte sie schon früher, als Schreibarbeiterin im Konzern, ausweichend beantwortet. Sie sei selbstständige Lektorin.
Bei dieser Auskunft würde sie es auch künftig belassen. Nicht auszudenken, wenn jemand von ihrer neuen Profession erführe.
Als sie noch für die Romanfabrik gearbeitet hatte, war nur ihre beste Freundin eingeweiht gewesen; fortan würde nicht einmal die wissen, was sie wirklich machte.
Einmal hatte sie ihr von der Arbeit als Trivialschreiberin für die Romanfabrik erzählt. Allerdings interessierte die Arbeit an sich die Freundin weniger als die anachronistischen Bilder, die durch das Wort Romanfabrik hervorgerufen wurden: altmodische Großraumschreibbüros, die an Arbeitshallen erinnerten, darin Schreibkräfte, die sich im Kollektiv die Köpfe zerbrachen und die Finger wundtippten und emsig seichte Stoffe zu verarbeiten und zuzuschneiden hatten, damit man, aber eigentlich vor allem frau, sich erbauen konnte an leicht verdaulichen Geschichten, seichten Romanen und Groschenheften; allein der Ausdruck. Wie aus der Zeit gefallen. Wie Schreibmaschinengeklapper. Wie überall Rauschschwaden. In den damaligen Produktionsstätten der Trivialliteratur wird es so gewesen sein; das reale Büro, die tatsächlich betretbare Schreibfabrik, früher, zur Zeit der Groschenromane.
Sie versuchte, sich die Räume und das Kontor von einst vorzustellen und starrte dabei auf die heutige Tür.
Sinnlos, über das Kommende zu spekulieren.
Müßig, sich Anachronismen in all ihren vergilbten Farben auszumalen.
Heute konnte man seine Schreibstelle doch längst überall auf der Welt aufschlagen.
Das Büro aufschlagen, das Lager aufschlagen, den Tätigkeitsplatz, den Ort der Arbeitsverrichtung. Aufschlagen; überall arbeiten zu können, das war nur in wenigen Sparten schon vor der Digitalisierung möglich gewesen. Ihre künftige gehörte jedenfalls schon lange dazu.
Die Arbeit als Schreibkraft hatte sie gerne gemacht, weil sie ihr Geld einbrachte.
Meist hatte sie daheim gearbeitet, jedoch vernetzt mit einem oft wechselnden Team, das über den Kontinent verstreut tätig war, aber zusammen an einer Arbeit saß, in der Produktion verbunden war; digital, transparent, flexibel – und sehr kontrollierbar.
Wie sich zwar das Triviale kaum, die Zeiten aber doch sehr ändern.
Vorher war sie eine Crowd-Arbeiterin gewesen, und nun würde sie, hoffentlich bald, zur Gig-Arbeiterin.
Dass sie es überhaupt in die digitalen Großraumbüros der Schreibfabriken geschafft hatte, verdankte sie ihren vorausschauenden Eltern, die sie schon 1978 geschlechtsneutral Kay genannt hatten.
Kay Korten, ein Name, wie ihn auch die Figuren tragen könnten, die sie für ihre vorigen Arbeitgeber entworfen hatte.
Nur wäre es im Roman klar gewesen, dass Kay Korten ein Mann wäre, Anwalt, in seinen Vierzigern und erfolgreich; also alles, was sie nicht war.
Sie hatte es nicht bewusst verschwiegen, ihr Geschlecht; wie das klang, schon viel zu intim eigentlich. Es ergab sich einfach, dass man sie für einen Mann hielt – und Kay hatte der falschen Annahme nicht widersprochen. Beim persönlichen Bewerbungsgespräch per Skype waren ihre Haare noch raspelkurz gewesen. Der Personalchef hatte gesehen, was er sehen wollte, einen femininen Typ. Vielleicht war auch ihre tiefe, durchs Rauchen rau gewordene Stimme irritierend gewesen. Oder das Licht zu schlecht.
Sie bekam den Job. Und verstand bald, dass sie es als Frau nicht einmal in die engere Auswahl geschafft hätte, denn die Romanfabrik leistete sich zwar digitale Heerscharen an Schreibarbeitern, aber nur wenige Schreibarbeiterinnen. Der Werkvertrag wurde sogar mit Schreibarbeiter*innen abgeschlossen. Aber praktisch wollte sich so ein Konzern, der für den großen Markt produzierte, keine *innen leisten, wegen der Fortpflanzung und sonstiger *innen-Beschwerden.
Als dem Personalchef endlich klar wurde, dass Kay eine Frau war, schien er peinlich berührt, wollte aber keinesfalls seine flinkste Kraft verlieren.
Außerdem war sie da bereits ein Ass in der bipolaren Anordnung von Figuren; wenn man das Schwarz-Weiß-Schema erst verinnerlicht hatte, war es wahnsinnig leicht, seichte Unterhaltung zu schreiben.
…