»Judit fühlte sich bewegungsunfähig, und in dieser Bewegungsunfähigkeit überprüfte sie sich, spürte ihrem Körper von oben bis unten nach, registrierte jede Unruhe, nahm alles an sich selbst als Anhaltspunkt wahr: das Festklammern am Telefon, das leichte Zittern der Lippen, der Drang zu kichern, um den Druck rauszulassen, der Kopf schmerzend, darum schiefgelegt, der Wunsch, woanders zu sein, ihre Beine, die sie ärgerten. Sie versuchte, zu sich zu kommen, versuchte, den Vorfall zu begreifen. War das die fünfte Ebene oder die sechste? Es fiel ihr nach fünf Jahren noch manchmal schwer, sich zu orientieren, die Wände in diesem Haus schienen immer gleich, die Stationen zu symmetrisch aufgebaut, das führte einen in die Irre. Doch, das war die fünfte Ebene. Die Interne. Der Gang war entvölkert und die vorherrschende Leere wirkte, als wäre die Spannung, die sich gerade eben aufgebaut hatte, nie dagewesen. Nur hinter den verschlossenen Türen blieben aus den Krankenzimmern Stimmen zu hören, gedämpfter Trotz gegen die Einsamkeit draußen. Wohin war die angestaute Energie verpufft? Ja, das war ganz sicher die Interne, deren Kunststoffboden wie gewohnt gräulich-gelb glänzte, erhellt von den Deckenlampen, die tagtäglich die Kranken ausleuchteten. Nichts als die übliche Schwermut und Grellheit um sie herum. Hier war eben noch die Hölle los gewesen, jetzt lag die Steindl beatmet auf der Überwachungsstation. Ich brauche frische Luft. Zum Lift waren es nur ein paar Schritte, vorbei an drei Plastikstühlen und am Spender für Desinfektionsmittel, einem Abstelltischchen, einem Regal mit Infobroschüren für Angehörige und einem hölzernen Jesuskreuz an der Wand – weniger Symbol einer Glaubensgemeinschaft als der Sehnsucht danach. Es schien schief zu hängen, aber das lag wahrscheinlich an ihrer Körperhaltung. Sie hörte wieder Stimmen, drehte sich aber nicht um. Im Lift der Blick in den Spiegel. Vielleicht lagen die Augen etwas zu tief, aber insgesamt: kein Unterschied zu sonst. Sie sah aus wie immer, fühlte sich nur komisch. Hunderte Einzelheiten, die in ihr widerhallten, und dazu das bohrende Gefühl der Niederlage.«
Schmerzambulanz | Leseprobe
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