Und dann steht er da. Ruhig. Distinguiert. Dünn. Ein stummer daoistischer Asket im Stiegenhaus.
Als ich aus der Wohnung gehe, harrt vor dem nachbarlichen Apartment ein Regenschirm aus. Zum Trocknen hingestellt. Zum Trocknen aufgespannt.
Er ist ganz harmlos, völlig ungefährlich; auch wenn der französische Romancier Marcel Proust dieses Utensil, gemeinsam mit der Uhr, einst als infiniment plus pernicieux et d’ailleurs platement bourgeois eingestuft hatte, als unendlich gefährlicher – weil rundweg bürgerlich – als Opium oder der Kris, der malaiische Dolch mit geflammter Klinge.
So bescheiden sich das Tragegerät gibt, es kann nicht leugnen, dass es Erbe einer ausgreifenden Geschichte ist. Und jedes Mal, wenn ihn die Eigentümerin oder der Nachbar in die Hand nimmt, Geschichte mit sich durch die Welt trägt.
Denn die Geschichte des Regenschirms wie seines Confrère, des Sonnenschirms, reicht, wie auf diesen Seiten zu sehen, tief zurück in die Menschheitsgeschichte, die Trockenheit suchte oder einen Schattenspender benötigte. Der Weg führt zu Königen, Päpsten und Bürgern, zu europäischen Künstlern und chinesischen Martial-Arts-Kämpfern, nach Indien, Braunau am Inn und ins rumänisch-ukrainische Grenzland, zu Impressionisten und Nietzsche und Neville Chamberlain, zu René Magritte und Mary Poppins.
Der Schirm war Signum des gehobenen, ja des allerhöchsten Standes und Ausweis prononcierter Bürgerlichkeit; und zugleich letzte Hilfe jener, die sich wie Carl Spitzwegs armer Poet von 1839 nur ein Dachkämmerchen mit lecken Dachsparren leisten konnten und sich beschirmen mussten im klammen Bett mit dünnem Plumeau. Oder er fungierte als Hüter weißer Hautnoblesse. Zu sehen auf Spitzwegs Bild einer spätbiedermeierlichen Familie 1841 bei hochsommerlichem Sonntagsspaziergang durch ein Feld. Die Figuren des Gemäldes beschirmen sich mit Paraplüs, der etwas lächerliche Paterfamilias mit einer lächerlichen Karikatur davon, er hält seinen hohen Hut auf erhobenem Gehstock über sich. So ist er, auch hier, auch damals, ein Symbol.
Ein Symbol war der Regenschirm durch weit mehr als zwei Jahrtausende hindurch. Er war ein Symbol für vieles, ja sogar für kosmisch alles. If we take a thing frivolously, meinte Gilbert Keith Chesterton, we can take it separately, but the moment we take a thing seriously, if it were only an old umbrella, it is obvious that that umbrella opens above us into the immensity of the whole universe. Betrachtet man leichtfertig ein Ding, dann kann man es von anderem separieren, aber in dem Moment, in dem man es ernst nimmt, und sei es auch nur ein alter Regenschirm, wird offensichtlich, dass sich dieser Schirm über uns in die Unermesslichkeit des ganzen Universums öffnet