Ziemlich verwickelt das Ganze. Die Sache mit der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft, die Sache mit der toten, kalten Zeit. Einmal war es die Gegenwart, einmal die Zukunft, das andere Mal wiederum die Vergangenheit, mit der Valerie nichts anfangen, zu der sie keinen Zugang finden konnte. Wenn sich die Lebenszeit ausnahm wie ein kleines, mehrfach zusammengefaltetes Stück Papier, an dem sich die Zeit vergangen hatte, an dem sie sich verging, in das die Zeit ihre Zähne, ihre Krallen und Kerben schlug, und dieses kleine Stück Lebenszeit schließlich ausgebreitet, aufgefaltet würde, dann würden die Muster sichtbar werden, die durch die Schnitte, die Einschnitte entstanden waren. Wie ein Scherenschnitt würde dann das kleine Stück Lebenszeit vor einer liegen. Die nachfolgenden Generationen könnten daraus ablesen, wie sich die Zeit an den Vorfahren vergangen hat, welche Einschnitte, welche Verwundungen dazu geführt haben, dass … Sie könnten dann auch ablesen, wie sich die Zeit an ihnen selbst vergangen hat, an ihnen, die aufgewachsen sind in der Zeit, die vergangen war, die sich an ihren Eltern und Großeltern vergangen hatte. Wie nun, wie würde wohl Valeries kleines Stück Lebenszeit aussehen, so ausgebreitet, so aufgefaltet – welche der Schnitte und Einschnitte, welche der Verwundungen würden wohl später als symptomatisch für diese Zeit, für ihre Zeit betrachtet werden?
Ziemlich verwickelt das Ganze. Noch immer stand Valerie da, vor der Fassade des Winarskyhofes, die eine Hand in der Hosentasche, die andere mit der letzten langen Haarsträhne befasst. Die Schnitte und Einschnitte ihrer Zeit, wütend und willkürlich müssten diese gesetzt sein, kreuz und quer über das Ganze, das ganze Blatt verteilt, und in dem Muster, in dem Scherenschnittmuster müssten sich die Brüche, die Unstetigkeiten, müsste sich das Halbfertige, das Unausgegorene zeigen. Aber wer konnte das schon wissen, wer konnte wissen, was daraus zu lesen, was herauszulesen sein würde aus den Einschnitten und Eingriffen dieser Zeit, die ihre Zähne, ihre Krallen und Kerben gerade in ihre Lebenszeit schlug. Valeries Haarschnitt zum Beispiel: Die meisten würden das wohl als eine Reaktion, eine Überreaktion auf ihre Trennung von Roland betrachten. Ein neues Leben. Eine neue Freiheit. Whatever. Dass es eine Art Fluch, eine Art Voodoo-Zauber hatte sein sollen, darauf würde niemand kommen, wie denn auch, wozu denn auch, schließlich ist sie doch eine aufgeklärte, eine gut ausgebildete junge Frau, die ihr Leben schon machen, die ihr Leben schon in den Griff bekommen würde, wenn – wenn sie endlich aufhören würde, sich selbst im Weg zu stehen (so Georg), wenn sie sich endlich aufraffen würde, sich einen angemessenen Job zu suchen (so die Eltern), wenn sie nur ein wenig ehrgeiziger wäre (so Doris und in ihrem Windschatten auch Evelyn), wenn sie nur ein wenig anschlussfähiger wäre (so Rita und Fred). Und Roland? Der hatte sich kaum Gedanken über ihre Zukunft gemacht, der wollte etwas aus sich machen, und in seinem Gefolge, als seine Gefährtin, hatte er auch sie ein wenig mitbedacht, miteingerechnet. Was der wohl gerade? Wo der wohl gerade? Wahrscheinlich war er in Salzburg, bei einem Meeting, einem Vernetzungstreffen, schließlich gehe es ja jetzt um alles, um alles, was ihm möglich sei nach dieser Ausbildung. Fünf Männer im Anzug, alle jung und dynamisch und ehrgeizig, und eine Frau im Kostüm, die am jüngsten, am dynamischsten, am ehrgeizigsten war, da sie schon eine Ahnung von der gläsernen Decke hatte und Erfahrung mit den informellen Bierglas-Absprachen unter den Kollegen. Und wenn Valerie jetzt einfach so stehen blieb? Hier, vor dem Winarskyhof, unter dem Leintuchtransparent, und sich ausmalen würde, wohin das alles führen würde, das ›Alles‹, was zu tun wäre, wenn sie sich eine Tat überlegen und in allen Details mit allen Konsequenzen ausmalen würde, dann würde sie den Rest ihres Lebens einfach hier stehen bleiben und sich überlegen, was zu tun, wie das zu tun, wohin das, was zu tun wäre, führen würde. Jede kleinste Bewegung, jeder kleinste Schritt hätte eine unüberschaubare Anzahl an möglichen Konsequenzen. Auch der Entschluss, hier stehen zu bleiben, würde vieles mit sich bringen, würde vieles nach sich ziehen. Valerie könnte verhungern, sie könnte erfrieren dabei, bei dieser Aufgabe, dieser Lebensaufgabe, wenn sich nicht Menschen finden würden, die ihr etwas zu essen bringen würden, zum Beispiel Wurstsemmeln, wie in dieser Geschichte, die sie einmal gelesen hatte, diese Geschichte, in der eine junge Frau am Karlsplatz gesessen war und nicht mehr von ihrem Hintern hochkommen wollte. Auch wenn sie nicht verhungern würde, sondern bis in ein hohes Alter hinein einfach stehen blieb, so stehen blieb, selbst dann würden sie wahrscheinlich in ihren Grabstein diesen Satz meißeln, den Satz mit allen Möglichkeiten: »So schade um sie, ihr wäre doch wirklich alles möglich gewesen. Talent hatte sie zwar keines, aber eine gute Ausbildung und ein solide gebildetes Elternhaus.« So oder so ähnlich. Sie aber würde in ihrem Testament darauf bestehen, dass dieser Scherenschnitt, der in ihre Lebenszeit schon eingelassen war, auch in den Grabstein eingelassen werden würde, als Zeichen, als Ausdruck dafür, wie diese Zeit, in der ihr angeblich so vieles möglich gewesen, mit ihr verfahren war, wie diese Zeit sich an ihr vergangen hatte.