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In fünf Minuten würde sich eine Traube um Art gebildet haben. Man stellte sich mit einer Zwangsjacke an einen belebten Platz, und die Leute blieben stehen, wollten wissen, was da vor sich ging. Er hatte eine Blechschale aufgestellt, in die er schon einige Münzen und kleine Scheine gelegt hatte. Niemand wirft Geld in eine leere Schale. Diesmal war ihm ein besserer Platz zugewiesen worden. Es gab reichlich Passanten, und sie konnten anhalten, ohne dabei den Weg zu blockieren. Ein gutes Dutzend von ihnen stand schon im Halbkreis und streckte die Augen aus.
Art legte sich die Posey über die Schulter, und wenn jemand in seine Richtung lächelte, lächelte er zurück. Eine Frau kam nah heran, musterte die Jacke, musterte Art. Er ließ sich begutachten. Sie griff nach der Posey, und Art drehte ihr die Schulter zu, damit sie leichter fühlen konnte.
»Meine Damen und Herren! Kommen Sie näher, keine Angst. Kommen Sie heran, ganz nah heran. Verfolgen Sie jeden Schritt. Bestaunen Sie den gefesselten Art! Kommen Sie, ja, Sie auch. Und Sie, worauf warten Sie? So etwas haben Sie noch nicht gesehen. Erleben Sie die Kunst der Fesselung. Ja, Sie haben richtig gehört. Das haben Sie noch nicht erlebt. Kommen Sie! Keine Angst. Es kann Ihnen nichts passieren – außer natürlich das Unvorstellbare, das Unglaubliche. Kommen Sie!«
In dem Halbkreis standen jetzt dreißig, vierzig Schaulustige. Art fasste seine Jacke mit beiden Händen an den Schultern und streckte sie in die Höhe. Er drehte eine Runde, die Zwangsjacke vor sich hertragend wie ein Banner.
»Das ist eine Posey-Zwangsjacke. Die Crème de la Crème der Zwangsjacken. Fühlen Sie, greifen Sie! Keine Scheu, packen Sie richtig zu.«
Ein stämmiger Mann griff sich die Jacke mit beiden Pranken und zerrte sie auseinander.
»Das ist Qualitätsarbeit«, sagte Art. »Da reißt nichts, da leiert nichts aus.« Er beendete die Runde und stellte sich wieder an seinen Ausgangspunkt, einen Meter vor dem Koffer, in dem er seine Requisiten aufbewahrte. »Sie haben gesehen: Es ist eine echte Zwangsjacke. Die gleiche finden Sie in den Psychiatrien, in den Gefängnissen.«
Er zog sich die Jacke über den Kopf. Die Gurte hatte Art so justiert, dass er gerade noch hineinkam. Man musste nur den richtigen Punkt erwischen – zu locker eingestellt sah es nach nichts aus, und saß sie zu fest, konnte es peinlich werden. Er wand sich in die Jacke, drehte sich und wiegte hin und her. Als Art den Kopf durch die Öffnung geschoben hatte, sah er, dass die Menschentraube kleiner geworden war, während er getanzt hatte. Er hatte gelernt, sich nicht allzu sehr um die Reaktion des Publikums zu kümmern. Wenn er einmal angefangen hatte, dann machte er seine Nummer auch fertig, mutete sich dem Publikum regelrecht zu.
Art kniete sich auf den Boden und klemmte den Gurt zwischen die Beine. Der Gurt verhinderte, dass man sich die Jacke einfach über den Kopf abstreifte. Die Arme hatte er noch frei, auch wenn sie in vorne geschlossenen Ärmeln steckten. Er zog den Schrittgurt fest, schob die Arme durch die Schlinge an der Brust. Um die Schnalle hinten festzuziehen, verwendete er ein Hilfsseil, das er danach abzog.
Damit hatte er den Punkt erreicht, an dem er sich nicht mehr selbst befreien konnte.
Über Arts Gesicht rollten Wellen, von der Stirn über die Nase zum Kinn, und mit jeder Welle lächelte er mehr. »Gefesselt!«, rief er. »Ganz und gar gefesselt!«
Er rappelte sich so elegant es ging auf und verbeugte sich.
»Danke schön! Sie waren ein wunderbares Publikum.«
Einige Zuseher applaudierten. Ein Großteil ging sofort weiter, eine Dame im Nerz schüttelte den Kopf und murmelte etwas. Die Frau, die vorhin so neugierig gewesen war, schnippte ein Fünfzig-Cent-Stück in die Blechschale.
»Vielen Dank«, sagte Art. »Sie waren das beste Publikum!«
»Das war’s?«
Es war der Mann, der vorher an der Jacke gezerrt hatte. »Diese Jacken sind dafür gemacht, dass man nicht rauskommt. Reinkommen kann ich selber.« Er kam angeprescht, fletschte die Zähne und fuchtelte schon beim Laufen mit den Armen in der Luft herum.
Art duckte sich und machte sich bereit, den Aufprall mit der Schulter abzufangen. Am besten war es immer, auf der Schulter zu landen, wenn man gefesselt fiel. Aber der Mann bremste ab und klopfte Art auf den Nacken.
»Starke Leistung, Garfunkel«, sagte er.
Art verzog den Mund. »Tut mir leid, wenn Ihnen die Show zu subtil war. Für die Nuancen der Fesselung sind halt nicht alle empfänglich.« Er blickte sich im Publikum nach Unterstützung um.
Der Mann zog Arts Gurte fester. Er tat so, als prüfe er nur, ob alles gut saß, aber er zog dabei so fest, dass es Art die Rippen zusammenschnürte.
»Hören Sie auf«, sagte Art. »Lassen Sie mich in Ruhe! Wenn Ihnen meine Show nicht gefallen hat, dann gehen Sie eben weiter. Hatte ich nicht gesagt, was ich vorhabe? Ich hatte es doch gesagt.« Er suchte erneut in den Augen der Umstehenden nach Unterstützung. »Habe ich es nicht gesagt?«
»Komm, Garfunkel«, sagte der Mann. »Befrei dich! Zeig, was du kannst!« Er zückte einen Fünfzig-Euro-Schein und drehte sich zum Publikum, das, sicherlich vom Tumult angezogen, wieder auf zwei Dutzend angewachsen war. »Das sind fünfzig Euro. Wenn er sich in fünf Minuten ohne Hilfe aus seiner Jacke befreit hat, bekommt er sie. Hast du gehört, Garfunkel? Fünf Minuten. Fünfzig Kröten. So viel hast du noch nie verdient, was?«
Art atmete ein und spannte die Arme an, blähte sich auf, um etwas mehr Platz in der Jacke zu schaffen. »Schieben Sie sich Ihre fünfzig Euro sonst wohin! Ich bin ein Fesselungskünstler. Entfesselung interessiert mich einen Scheißdreck. Jeder Möchtegern-Houdini entfesselt. Sie haben gesehen, was es zu sehen gibt. Es war Ihnen zu hoch, dafür kann ich nichts. Und jetzt hauen Sie ab.« Art schob die Brust nach vorne und streckte das Kinn nach oben.
Der Mann lächelte ins Publikum. Mittlerweile waren sogar mehr Menschen hier als am Anfang der Show. Einige mussten glauben, der Rüpel sei Teil der Show, ein bezahlter Schauspieler, und Art würde sich jeden Moment befreien und ihm einschenken. Der Mann versetzte Art einen Stoß. Art knallte auf den Boden und sein Gesicht malte einen Blutfleck auf den Beton.
»Noch drei Minuten!« Der Mann forderte das Publikum zum Applaudieren auf, und einige folgten.
»Kann mir bitte jemand aus der Jacke helfen?« Art sah sich nach der Frau um, die ihm fünfzig Cent zugeschnippt hatte, aber sie war wohl schon gegangen.
»Du!« Er meinte einen Teenager, der neongrüne Kopfhörer trug. Der Teenager tippte sich auf die Brust.
»Ja, du, machst du mir die Gurte auf?« Art drehte sich auf den Rücken, hob den Kopf.
»Du rührst dich nicht, Pisser«, sagte der Mann.
Der Teenager nahm die Kopfhörer ab und grinste den Mann an. Er ging zu Art, kniete sich neben ihn und öffnete die Gurte.
»Ja, dann hilf ihm halt aus seinem Jäckchen«, sagte der Mann. »Du kannst ihm gleich einen blasen, wenn du dabei bist. Das wäre doch was. Ihr seid mir zwei.«
»Tolle Nummer, die du da machst«, sagte der Teenager zu Art. »Voll Bondage.«
»Es ist Kunst«, sagte Art. »Dieser Grobian versteht das einfach nicht.«
»Kümmere dich nicht um den. Du machst dein Ding.«
»Leckt mich doch am Arsch«, sagte der Mann und zog vor sich hin schimpfend ab.
Man umringte Art, half ihm aus der Jacke.
»Alles in Ordnung?« Eine Dame reichte ihm ein Taschentuch. »Ihre Lippe.«
»Es geht schon.« Art zog sich die Knie an die Brust. Er zitterte, als habe er zu lange in der Kälte gehockt. »Entschuldigung. Es ist alles gut, ich muss nur ein bisschen sitzen.«
Der Teenager kam mit der Schale Kleingeld an, stellte sie neben Art. Er brachte auch den Requisitenkoffer und legte die Posey hinein. Dann nickte er noch, wohl um Art aufzumuntern, setzte sich die Kopfhörer wieder auf und schlenderte davon.
Die Menschenmenge hatte sich zerstreut, man beachtete Art nicht mehr. Er zählte das Geld. Keine zehn Euro hatte er gemacht, aber wenigstens fehlte nichts. Es kam vor, dass am Ende weniger in der Schale war, als er selbst hineingegeben hatte.
Tauben pickten ein Salzstangerl vom Boden, das jemand verloren haben musste. Eine hatte ein übergroßes Stück im Mund und schüttelte heftig den Kopf, wohl in der Hoffnung, es möge davon zerbrechen. Schließlich legte sie es ab und pickte darauf herum. Eine andere Taube packte das Stück. Die Tauben rauften darum, bis es endlich riss. Die eine Taube hatte ein kleines Stück, die andere ein immer noch zu großes. Der Vorgang wiederholte sich mehrere Male, bis das Salzstangerl restlos verschwunden war.
Art griff sich an die Lippe. Am Finger war Blut. Er leckte die Lippe, presste den Handrücken auf die Stelle. Bald hatte er lauter rote Tupfer darauf. Er leckte sich sauber und wischte das Blut mit dem Taschentuch der Dame ab, faltete es zusammen, steckte es in seine Hosentasche und schloss die Augen.
Als er etwas neben sich spürte, öffnete er sie wieder. Neben ihm saß eine junge Frau. Sie war klein und eine Sonnenbrille bedeckte fast ihr gesamtes Gesicht. Obwohl es ein warmer Tag war, trug die Frau einen schweren Trenchcoat.
»Na«, sagte sie.
»Sitze ich auf deinem Platz?« Art lehnte sich nach hinten und blickte die Hauswand hinter sich hinauf.
»Auf meinem Platz.« Die Frau machte den Mund auf, als müsste sie lachen. »Glaubst du, man kann sich hier einen Platz am Gehsteig reservieren?«
»Ich dachte nur«, sagte Art.
»Starke Nummer«, sagte die Frau. »Ich bin Zozo.«
»Freut mich, ich bin –«
»Jaja, der gefesselte Art.«
»Was ist das für ein Name: Zozo?«
»Eigentlich heiße ich Zoey, aber so nennt mich niemand.«
»Tut mir leid wegen der Show.«
»Ach was. War doch gut! Du hast den Kerl provoziert, das ist ein gutes Zeichen. Wie ein richtiger Künstler.«
»Ich will aber nicht provozieren, ich will begeistern.«