Makkaroni in der Dämmerung
(Die Dame, 1931)
Als ich ein Baby war, bekam ich viele Bilderbücher geschenkt; das hörte auf zwischen meinem fünften und sechsten Jahr, in der Zeit, da ich mit viel Kunst und Zähigkeit das Lesen erlernte. Aber neuerdings hat es wieder angefangen. Bilderbücher sind ein Geschenkartikel geworden, der sich auf dem Gabentisch des modernen Erwachsenen zu Haufen türmt. Das hängt erstens zusammen mit den Fortschritten der Fotografie und den Errungenschaften der Drucktechnik, habe ich mir sagen lassen. Und zweitens mit jenen infantilen Eigenschaften, die sich im Wesen des modernen Erwachsenen großgezüchtet haben: Ungeduld und Neugierde.
Wozu sich noch die Mühe machen, zu lesen? denkt dieser moderne Erwachsene, da man doch alles und jedes fotografieren kann! Ihm fliegen die gebratenen Resultate ins Gehirn, er braucht nicht mehr den Umweg des Denkens zu Hilfe zu nehmen. Tiere sehen uns an, Kinder sehen uns an, Dinge sehen uns an – und wir sehen sie an, mit einem ziemlich beschwerdelosen Vergnügen und ohne viel Kritik. Die Fotografen, diese Teufelskerle, kommen doch hinter alles. Sie zeigen uns: das Gesicht der Städte, das Antlitz der Zeit, Frauen von heute, den Mann von morgen. Sie entdecken Wolkenkratzer, Hände, die Staubfäden der Feuerlinie, Totenmasken, das Liebesspiel der Stichlinge, den Tanz der Maschinen und die Landschaft, die sich in einem Wassertropfen spiegelt. Sie knipsen, und wir brauchen überhaupt nichts mehr zu tun. Wir kriegen alle Eindrücke fertig belichtet und vorgekaut.
Es gibt da eine Art von Fotografien, die sehr überhandgenommen haben. Ich habe zu meiner inneren Erleichterung den Sammelnamen »Makkaroni in der Dämmerung« dafür erfunden. Weiß man, was ich meine? Ich meine: Zweihundert Zwirnspulen auf einer Tischplatte, ein bißchen Lichtspielerei und ein bißchen Perspektivzauber. Ich meine: Achtzehn Paar Schuhe hintereinander aufgestellt, und so von schräg unten aufgenommen, daß sie wie eine Straße oder ein Turm aussehen. Marke: Sachliche Fotografie. Ich meine: Aus einem Jutesack (wunderbar wie das Material lebt! sagt der Kenner) fließen dreieinviertel Pfund geschälter Reis. Sieht das nicht wunderbar aus?
Ja, liebe Fotografen, das sieht wunderbar aus, wenn man es zum erstenmal sieht. Auch beim drittenmal noch macht es Eindruck und beim zehntenmal Vergnügen. Aber beim hundertstenmal fängt es an, langweilig zu werden. Wir sind langsam hinter eure Tricks gekommen, wir kennen euer ewiges Treppenhaus, von unten her zur Schnecke zusammengeschoben, eure kühn verkürzten Hausfassaden und eure Schornsteinsilhouetten. Ihr kommt noch immer, seit drei oder vier Jahren kommt ihr und wollt uns immer wieder mit der gleichen Sache überrumpeln. Aber wir wissen schon! Achthundert Teerfässer. Gut. Tausend Glasplatten. Schön. Zwölfhundert Holzlöffel. Ausgezeichnet. Zweitausend Allgäuer Käse. Prachtvoll. Viertausend Pfund Makkaroni. Wunderbar, wie das aussieht. Und so sachlich – nicht?
Bitte um Entschuldigung: Nein. Es ist nicht so sachlich und heutig und schlagwortmäßig einwandfrei, wie es beansprucht, zu sein. Es ist sehr viel Arrangement dabei, Jupiterlicht von links oben und eine spiegelnde Glasfläche darunter und ein Reflex, mit Silberpapier herausgekitzelt, und es ist viel Routine dabei, ein bißchen zuviel Routine. Es sind nicht Makkaroni schlechthin, sondern Makkaroni in der Dämmerung.
Das ging mir so durch den Kopf, als ich die Bilderbücher durchblätterte, die mir der liebe Weihnachtsmann gebracht hat, weil ich das Lesen verlernt habe wie sehr viele Zeitgenossen. Ich möchte die Namen der Bücher nicht nennen, die ich meine, es sind sehr gute Bücher und die besten Fotografen dabei, und es könnte aussehen wie bösartiges und unangebrachtes Meckern. Während es im Gegenteil eine Ermutigung sein soll:
Los von den Makkaroni, liebe und dankbar verehrte Fotografen, und auf zur Entdeckung neuer und bewegterer Dinge …
Ich wundere mich
(Die Dame, 1931)
Unsere Mitarbeiterin Vicki Baum hat mit dem Bühnenstück »Menschen im Hotel« einen Welterfolg erzielt. Das Stück ist in Berlin, in Wien und in vielen deutschen Städten gegeben worden, ist jetzt das zugkräftigste Bühnenwerk in New York und wird demnächst auch in London und Paris aufgeführt werden. Vicki Baum erzählt hier, wie das Werk entstanden ist und wie die Gestalten in den verschiedenen Aufführungen auf sie wirken.
Romane schreiben, ist ein sauberes, schönes Handwerk; muß ich mich schämen, zu gestehen, daß ich verliebt in dieses Handwerk bin? Ich habe Romane geschrieben, so weit ich mich zurückerinnern kann. Der früheste von ihnen, mit Kinderschrift in ein blauliniertes Schulheft geschrieben, beginnt so: »›Danke, ich trage meine Geige am liebsten allein!‹ sagte Hans Helder; (Helder hieß der Held meines neunjährigen Herzens!) und schloß die Tür des Künstlerzimmers hinter sich zu.«
Ich kann diesen Romananfang noch heute nicht ohne Achtung und Vergnügen lesen. Ich denke gerührt der ungezählten Manuskripte, die ich ganz für mich, nur für meine Schublade, meinen Papierkorb, mein eigenes Manuskriptkrematorium geschrieben habe; und mit stiller Erwartung sehe ich den vielen Romanen entgegen, die ich als alte Dame schreiben werde, völlig außer Kurs gekommen, und nur für mich. Einfach aus der Freude am Handwerk des Schreibens und ohne jene hyänenhafte Gier des Geldverdienens, die man bei mir voraussetzt, seit meine Auflagen gestiegen sind. Aber ich wollte nicht von Romanen sprechen, sondern vom Theater. Ich habe das Romanschreiben nur des Kontrastes wegen erwähnt. Zum Theater kommen, am Theater aufgeführt werden – das ist nämlich so ein Gefühl, als käme man unter eine Dampfwalze. Eben war man noch gesund und hatte seine plastischen drei Dimensionen. Da wird man vom Theater erfaßt, zu Boden gedrückt, ausgewalzt. Man kommt vollkommen platt wieder heraus; alles, was man gedacht oder geschrieben hat, wird vollkommen platt. Und dann steht man da und wundert sich.
Ich muß, sehe ich, mit dem Ende anfangen, um meine Verwunderung zu erklären. Ich habe da zum Beispiel ein Theaterstück geschrieben: »Menschen im Hotel«, das ist so etwas wie ein Welterfolg geworden. Sie spielen es in New York, in London, in Paris und überall. Ich wundere mich, daß es von mir ist, ich wundere mich, daß sie es spielen, ich wundere mich, daß Leute hingehen, um diese Sache anzuschauen. Es ist nämlich gar kein Theaterstück, sondern ein Roman, den ich nach vielem Zureden recht und schlecht aus der epischen in die dramatische Form zurechtgequetscht habe. Es ging dabei zu, wie bei Aschenputtels Schwestern, denen der Schuh nicht paßte: »Da reichte ihr die Mutter ein Messer und sprach: Hau’ ein Stück von der Ferse ab.« … Ja, solche Bühnenfiguren sind unvollkommen und einfach wie Abziehbilder. Wenn ich sie auf dem Theater sehe, erkenne ich meine ältesten Gedankenfreunde nicht wieder. Mit manchen von ihnen war ich so intim, ich lebte Jahre meines Lebens mit ihnen. Da ist zum Beispiel einer, den ich gern hatte: Kringelein, ein kleiner, todkranker Beamter, der »das Leben« einfangen will. Mit Kringelein steht es so: Ich sah ihn, als ich vierzehn Jahre alt war und bei einem Gesangvereinskonzert in einer kleinen Stadt Niederösterreichs als Harfenspielerin mitwirkte. Es war ein kleiner, ältlicher, mickeriger Mann, wundrasiert, mit einer bös aussehenden Frau; er trat an einer bestimmten Stelle des Programms aus der Reihe und sang das Tenorsolo mit einer dünnen, hellen und zitternden Stimme. Dieser Mann, mit dem ich nie gesprochen habe, beschäftigte mich von meinem vierzehnten bis zu meinem vierzigsten Jahre. Ich habe über ihn nachgedacht, ich habe ihn ausspioniert, ich habe einen endlosen Roman über sein Leben geschrieben und weggeworfen. Ich habe zuletzt die Essenz dieser Gestalt zusammengepreßt in seine drei letzten Tage. Ich habe aus diesen drei Tagen den Roman »Menschen im Hotel« und aus dem Roman das Theaterstück »Menschen im Hotel« gemacht. Kein Wunder, daß ich mich nun wundere, wenn ich ihm auf der Bühne begegne, und er nicht sein Gesicht trägt und nicht mein Gesicht, sondern das Gesicht eines Schauspielers. Ich wundere mich, wenn dieser Mann in jeder Stadt anders aussieht: In Berlin bei dem jungen Kemp war er alt, zerzaust, kindlich; in Wien lieh ihm Edthofer seine müde Eleganz; in London, wo Ronald Squire ihn spielt, wird dieser arme Clerk (wie sie ihn dort nennen) sicher auch ein Bonvivant sein; in der Provinz spielten sogar Gymnasiasten das Stück. Da war er ein achtzehnjähriger Proletarier. In New York ist er ein junger Mensch aus dem Ghetto – da wundere ich mich. Ich weiß so viele Geheimnisse dieses Menschen Kringelein, viel mehr, als ich je über ihn erzählt habe; auf der Bühne ist er eindeutig; er hat kein Geheimnis; was er weiß, das sagt er und damit Schluß.
Ich will damit nichts gegen das Theater gesagt haben, im Gegenteil; seine mathematischen Möglichkeiten sind vielfacher als die des Schachspiels. Aus einer Figur macht es hundert verschiedene Figuren. Aus einem Schauspieler macht es hundert verschiedene Menschen. Und manchmal wieder aus hundert verschiedenen Figuren immer wieder den einen großen Schauspieler: die Dorsch, Bassermann, Max Pallenberg.
Nein, nichts gegen das Theater! Als man mich zum erstenmal unter der Dampfwalze hervorzog, habe ich geschworen, feierlich und ernst: Nie wieder ein Stück zu schreiben. Es war ein Meineid, um es gleich zu sagen. Ich habe wieder eines geschrieben. Und ich kann den Augenblick nicht erwarten, wo ich zum zweiten Male unter die Dampfwalze kommen soll …