Ich konnte es nicht glauben, als ich das Koppensteiner betrat und ihn da sitzen sah. Nach all den Jahren, in denen ich nichts von ihm gehört hatte, kam mir diese plötzliche Wiederbegegnung wie ein Wachtraum vor. Man kennt das. Das einfallende Licht sieht dann mit einem Mal so weich aus, als wäre es Verpackungsmaterial für das zerbrechliche Geschehen. Verstärkt wurde dieses Gefühl der Unwirklichkeit noch, weil ich diese Wiederbegegnung in meiner Vorstellung endlos oft durchgespielt hatte. In meiner Fantasie hatte sie an den verschiedensten Orten und zu den unterschiedlichsten Tageszeiten und Gelegenheiten stattgefunden. Zuletzt hatte ich aber kaum mehr an ein Wiedersehen geglaubt.
Es war meine Mittagspause am Archäologischen Institut, und ich war ins Koppensteiner gekommen, um hier wie gewohnt mein Menü zu essen, und da saß plötzlich Philip, so als wäre er niemals weg gewesen, und noch dazu an meinem Stammplatz. Als ich zu ihm hinüberging, muss ich ihn angestarrt haben wie einen Geist, sein Gesicht wirkte hingegen, wie schon früher immer, verstörend ausdruckslos. Weder Verwunderung noch Freude über unser plötzliches Wiedersehen nach so langer Zeit konnte ich entdecken. Stattdessen glaubte ich, das Wort endlich von seinen Lippen ablesen zu können, gerade so, als hätten wir eine Verabredung gehabt und ich wäre zu spät gekommen und als würde es hier um Minuten gehen und nicht um Jahre.
Wir gaben uns zur Begrüßung die Hand. Jeden anderen hätte ich nach so langer Zeit umarmt, aber Philip hatte es noch nie mit überschwänglichen Gefühlsäußerungen gehabt.
Schön, dich zu sehen, sagte ich.
Ja, erwiderte er.
Wir setzten uns, und Philip griff nach seinem Glas, hob es aber nicht zum Mund, sondern hielt es einfach nur fest.
Wo warst du?, fragte ich ihn.
Im Norden, sagte er und zeigte mit dem Daumen hinter sich.
Wo im Norden?
Auf einer Insel: Hugh. Ganz klein, kennt keiner. Vor der Küste von Cornwall.
Was hast du gemacht dort?
Was ich immer mache. Vögel beobachtet.
Philip lächelte sein typisches Lächeln, von dem ich nie wusste, ob es seinem Gegenüber, der Situation oder dem Leben an sich galt. In dem Moment kam die Kellnerin und fragte, was wir essen wollten. Das Koppensteiner bot jeden Tag nur ein Menü an. Heute gab es Huhn auf kreolische Art, dazu Rosmarinreis. Ich nahm das Huhn, Philip bestellte sich nur etwas zu trinken. Er war kein Vegetarier, aß als Ornithologe aber keine Vögel.
Philip war in einer Kleinstadt aufgewachsen, eine knappe Zugstunde von Wien entfernt. Sein Vater betrieb dort eine Rechtsanwaltskanzlei, hatte keinerlei Skrupel und dementsprechend viel Macht und Geld. In dem kleinen Nest hatte er mehr zu sagen als der Bürgermeister, und das nutzte er auch zur Genüge aus. Jede wichtige Entscheidung lief über seinen Schreibtisch. Das hatte mir Philip erzählt, nicht stolz, sondern voller Verachtung. Um dem Einfluss seines Vaters zu entkommen, entschloss Philip sich, in Wien zur Schule zu gehen. Hier im Gymnasium lernten wir uns auch kennen. Philip pendelte jeden Tag, und weil der Bahnhof auf meinem Schulweg lag, trafen wir uns anfangs hin und wieder zufällig, bis wir uns schließlich verabredeten und von da an jeden Tag gemeinsam zur Schule gingen. Meist war ich überpünktlich und wartete auf dem Bahnsteig auf ihn.
Sobald er sechzehn war, zog er von daheim aus und suchte sich eine kleine Mietwohnung in der Stadt. Sein Vater schien froh zu sein über die Selbstständigkeit seines Sohnes und kam für die Kosten auf.
Wir verstanden uns die ganzen Schuljahre hindurch gut und verloren uns auch nach der Matura nicht aus den Augen. Trotzdem vermeide ich den Ausdruck Freundschaft, weil Philip sich dagegen gewehrt hätte. Sein Menschenbild war durch und durch pessimistisch. Ich habe von den Menschen, einschließlich mir selbst, immer das Schlechteste angenommen und bin damit fast immer richtig gelegen, war ein Zitat, ich glaube von Karl Kraus, das er oft und mit Überzeugung wiederholte. Auf der Welt gab es demnach nur Bekanntschaften und keine Freundschaften. Wer etwas anderes behauptete, den betrachtete Philip als realitätsfernen Romantiker.
Wieso hast du gewusst, dass ich heute zum Mittagessen herkommen würde?, fragte ich ihn.
Auf deine Gewohnheiten ist Verlass, sagte er mit einem zynischen Grinsen, und ich konnte ihm nicht widersprechen. Das Koppensteiner hatte ich bald nach der Matura entdeckt, und seit damals war es mein Lieblingslokal geblieben. Aus einem einfachen Grund: Speisekarten überforderten mich. Zuerst brauchte ich eine Ewigkeit, um mich zu entscheiden, und kaum hatte ich etwas bestellt, bereute ich meine Wahl auch schon wieder. Im Koppensteiner, das nur ein einziges Menü anbot, hatte ich diese Probleme nicht. Und weil das Lokal auch nur drei Straßen vom Archäologischen Institut entfernt lag, wo ich vor fünf Jahren eine Stelle als Fotograf gefunden hatte, kam ich fast täglich zum Essen her.
Philip war da anders. Philip wusste, was er wollte, beim Essen und auch sonst. Und falls er manchmal doch seine Zweifel haben sollte, merkte man ihm das nicht an.