Auf der vierten Galerie. Das ist einer der schönsten Plätze Österreichs, die vierte Galerie der Wiener Staatsoper. Wann werden wir wieder hier sitzen? Ist es heute zum letzten Mal? Wer weiß … Ich habe Anna neben mir.
Ende des ersten Aktes. Smetanas »Dalibor«. Eine herrliche Oper, eine slawische Oper. Dröhnender Beifall, gute Sänger. Auch Bruno Walter wird gerufen. Wie lange wird er noch hier regieren? Wir haben ja schon eine Rede Hitlers im österreichischen Radio gehört. Schuschnigg hat geantwortet, erstaunlich mutig. Aber er ist doch nur ein kleiner klerikaler Bürokrat. Wer wird für ihn einstehen, wofür steht er ein? Glaubt Robert, was er sagt? Wenn er einen Seyss-Inquart zum Innenminister ernannt hat, kann man ihm nicht vertrauen. Eigentlich habe ich ihm nie vertraut. Ich habe bereits das Visum Kolumbiens. Aber ob Anna zu bewegen ist? Sie muß … Ich halte es in Europa nicht mehr aus. Südamerika …
Wie herrlich die Musik ist; die Philharmoniker gibt es nur einmal …
Tosender Applaus. Was ist das? In allen Rängen erheben sich die Leute und schreien: »Österreich, es lebe Österreich!« In der ersten Loge des ersten Ranges ist das schmale Schulmeistergesicht Doktor von Schuschniggs aufgetaucht. Dünn und ängstlich verdrückt er sich im Hintergrund seiner Loge. Nie war er populär. Er fürchtet sich vor den Leuten. Dabei ist es nicht das Volk, es ist doch ein intellektuelles Premierenpublikum … Der Dirigent kommt und befreit Schuschnigg, übernimmt den Applaus für sich.
Volksabstimmung. Wenn Schuschnigg noch den Mut zu einer Volksabstimmung aufbringt, kann es nicht so schlimm stehen, meinen manche Leute.
»Italien kann Deutschland, kann insbesondere Hitler nicht aIs Nachbarn auf dem Brenner brauchen«, meint Robert. »Sicher deckt uns Mussolini den Rücken.«
Niemand fällt es ein, daß Demokratie Schutz gewähren könnte. Niemand denkt daran, dem Volk, das seine Heimat verteidigen soll, sein Recht wiederzugeben. Man kann den Haß und die Verbitterung nicht mit einem Federstrich weglöschen. Man kann die toten Freiheitskämpfer nicht aufwecken, doch kann man von den Arbeitern auch nicht verlangen oder erwarten, daß sie eine Freiheit verteidigen, die sie nicht haben.
»Es heißt, daß alle sozialistischen Gefangenen freigelassen werden«, berichtet Robert.
»Und bis gestern waren sie der böse Feind, war Sozialismus ein ärgerer Vorwurf als Nationalsozialismus!«
»Man muß den vaterländischen Österreichern gegen die Verräter helfen. Wir gehören zu ihnen.«
»Morgen wirst du für diese Heute-Noch-Österreicher der Auswurf der Menschheit sein.« Eigentlich hasse ich das Kassandrageschrei. Ich bin kein Schwarzseher. Ich verzweifle nicht, ich unke nicht; ich weiß einfach, was kommen muß. Natürlich bin ich Pessimist. Ich weiß, daß wir in der schlechtesten aller Welten leben. Aber ich glaube, daß wir ihr entfliehen und daß wir sie umgestalten können.
»Ich fürchte wirklich, daß der Karren verfahren ist!« Zum ersten Mal höre ich das von Robert. »Mancher, der noch gestern ›Hoch Schuschnigg!‹ gerufen hat, wird morgen ›Heil Hitler‹ brüllen. Es liegt in der Luft.«
»Sie sind diszipliniert und gehorsam«, sage ich. »Sie sind jetzt zur gegenrevolutionären Ordnung erzogen. Und außerdem jubeln sie hier in Wien jedem zu, der was Neues bringt und der ein Schauspiel bietet. Uns Juden werden unsere lieben Landsleute mit Vergnügen opfern.«
»Insbesondere, wenn für manche dabei eine kleine Beute abfällt.«
Plötzlich scheint Robert sich zusammenzureißen. »Ich rede Unsinn. Wir müssen kämpfen. Wohin sollen wir kommen, wenn wir die Überzeugung, den Glauben an Österreich verlieren?«
»Nach Südamerika«, erwidere ich, und mir scheint meine Antwort flach und hohl und fast wie eine Drohung.