Stichtag
Der Flügelschlag der Asiatischen Tigermücke ist nur bei völliger Stille zu hören. Gar kein unangenehmes Geräusch eigentlich, nicht das nervöse Sirren unter Strommasten. Eher ein zartgliedriges Tremolo, selbst für den virtuosesten Musiker wegen des hohen Tempos unmöglich zu spielen. Das Unangenehme am Flügelschlag der Asiatischen Tigermücke ist nicht das Geräusch, sondern das Wissen darüber, was droht.
Die Asiatische Tigermücke ist widerstandsfähig. Ihre Eier können auch bei völliger Trockenheit monatelang überleben. Sie nistet bevorzugt in alten Autoreifen, wie sie im Garten von Klarissas Nachbarn achtlos übereinandergeworfen liegen. Eine in ihrer DNA verankerte, evolutionär aber nicht erklärbare Ortsverbundenheit ist verantwortlich, dass sich die Asiatische Tigermücke ihr ganzes Leben lang nur wenige hundert Meter von ihrem Schlüpfort fortbewegt.
Wie alle Mückenarten ernährt sie sich von Pflanzennektar, nur die Weibchen benötigen für die Bildung ihrer Eier Blut. Eindeutig identifizieren lässt sich die Asiatische Tigermücke an einem mittig über den dunklen Kopf und die obere Brustpartie verlaufenden silbrigweißen Streifen. Deshalb hat ihr Entdecker, der britische Entomologe Frederick A. Askew Skuse, sie auch The Banded Mosquito of Bengal genannt. In seiner Beschreibung des Tieres heißt es außerdem, dass »der Unterleib doppelt so lang wie der Brustkorb und der Saugrüssel gleich fünfmal so lang wie die Fühler ist«.
Das Weibchen der asiatischen Tigermücke, das gerade von dem Reifenstapel in Nachbars Garten losfliegt und sich in einem weit ausladenden Bogen auf den Tisch zubewegt, an dem Klarissa und ihre Enkelin sitzen, trägt den Chikungunya-Virus in sich.
Das Wort Chikungunya stammt aus der Sprache der in Tansania ansässigen Makonde und bedeutet wörtlich übersetzt der gekrümmt Gehende. Der Name verweist auf die heftigen Muskel- und Gelenkschmerzen, die den Ausbruch des Chikungunya-Fiebers begleiten. Während in Afrika zahlreiche Menschen an dem Fieber erkranken, erweist sich die Bevölkerung in Südostasien aus unbekanntem Grund als weitgehend immun gegen das Virus. Nicht so jedoch die dort lebenden Europäer. Vor mehr als zwanzig Jahren hat eine infizierte Mücke Klarissa gestochen, und sie ist daraufhin fast eine Woche lang im Fieberdelirium gelegen. Deshalb ist sie immun.
Nur bei völliger Stille ist der Flügelschlag der Asiatischen Tigermücke zu hören. Doch ist es nicht still, und schon gar nicht völlig still, auf der Veranda von Klarissas Haus, denn das Flügelreiben der Zikaden im alten Eukalyptusbaum erfüllt die Luft, und Klarissa erzählt, und Su fragt, und hin und wieder bellt einer der streunenden Hunde, die tagsüber auf der Jagd nach ihren Schatten und auf der Suche nach Nahrung die Hauptstraße des Dorfes endlos hinauf- und hinuntertrotten. Die Geräusche drängen sich also an diesem Abend, lungern nebeneinander herum und steigen übereinander hinweg, während Sus Aufmerksamkeit an den Lippen ihrer Großmutter und sicher nicht in der Luft hängt, wo in einem eigentlich atemberaubenden Schauspiel das Asiatische Tigermückenweibchen kreist und schwebt, schließlich unbemerkt auf Sus Schulter landet, mit seinen fragilen Insektenbeinen über Sus schneeweißes und schweißnasses Hemd stakst, riecht, fühlt und wittert, und dann genau dort, wo sich Sus linker Schulterknochen abzeichnet, zusticht. Su reagiert sofort, schlägt mit der flachen Hand zu, trifft die Mücke und wischt sich die blutige Hand an ihrer Hose ab. Und glaubt, damit sei der Fall erledigt.