Ich bin in meinem Freundeskreis für meine Reiseversessenheit bekannt, werde von manchen darum beneidet und verwirre viele mit der Unzahl meiner Reisepläne. Wie es sich für die junge, vielsprachige Europäerin von heute gehört, habe ich unter anderem eine Interrail-Reise, ein Erasmus-Austauschsemester und ein Volontariat in Afrika gemacht. Das vergangene halbe Jahr habe ich zum Abschluss meines Studiums in Kanada verbracht. Und seit ich Ottawa vor einem Monat mit 35 Kilogramm Gepäck verlassen habe, habe ich den Segen unserer Mobilität zu verabscheuen gelernt. Mit dem Zug nach Toronto, mit dem Bus durch die Großstadt, mit dem Flieger über Island nach München, Familie in Salzburg und Vorarlberg besucht, bei Freunden in Wien untergekommen und die Masterprüfung abgelegt, mit dem Zug nach Marseille zu Freunden, mit dem Bus nach Madrid, und jetzt, nur vier Wochen später, bin ich hier. Die nächsten zwölf Stunden habe ich nun Zeit, mich auf einen neuen Lebensabschnitt zu freuen. Sieben Monate Südamerika – und ich habe tatsächlich keine Lust darauf.
Ich war wahnsinnig stolz auf meinen Plan, meine Flugdistanz auf das Notwendigste, nur über den Atlantischen Ozean, zu reduzieren. Doch ich muss zugeben, dass ich dies beim vierten Umstieg am Bahnhof in Lyon langsam bereute, genauso wie mitten in der Nacht am Busbahnhof von Bordeaux, wo es schön dunkel war, nach Urin duftete und ich aus Mangel an Nahrungsangebot über meine als Gastgeschenk gedachten Mozartkugeln herfiel. Stolz berichtete ich Muriel von dieser Odyssee. Immerhin hatte ich ökologisches Denken praktisch von ihr gelernt. Umso schockierter war ich, als ich erfuhr, dass sie selbst mit dem Flugzeug aus Brüssel gejettet war, um mich hier zu treffen. Wie zum Vorwurf berichtete ein Radiomoderator ihres Lieblingssenders eines Morgens, während wir auf dem Balkon unserer Unterkunft im Mistral-verwehten Marseille frühstückten: »Umweltforscher sagen, dass nur drei große Maßnahmen tatsächlich nachhaltig das Klima schonen: Nicht Auto fahren, nicht Fliegen und keine Kinder bekommen.« »Also, Muriel, keine Kinder?«, lachte ich. Muriel war sichtlich getroffen von meinem augenzwinkernden Vorwurf. Dabei gehöre ich ja selbst zur schlimmsten Sorte, wenn es um das ökologische Gewissen geht. Die einen machen quasi alles richtig und verurteilen jene, die das nicht schaffen, obwohl es doch »so leicht und so viel schöner« sei, während diese anderen permanent ein schlechtes Gewissen wegen ihres Lebensstils haben. Ich hingegen verurteile alle Menschen rund um mich herum für ihr unökologisches Verhalten und schaffe es selbst nur selten, konsequent zu sein. Ein Leben ohne Fleisch? Gerne weniger, aber bestimmt nicht ganz ohne. Ein Leben ohne Käse?! Da könnt ihr mich gleich erschießen. Und welche schöne Ausrede hatte ich also parat, um meinen anstehenden Flug um die halbe Welt zu rechtfertigen? Natürlich, der einzige Grund, der immer erlaubt ist: die Liebe.