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Am nächsten Morgen weiß ich nicht, ob das Ganze ein Traum gewesen ist oder nicht, glaube aber dann doch, daß ich wirklich gehört habe, woran ich mich erinnere, wage es aber nicht, die Eltern zu fragen.
Erstens ist das unerlaubte Mithören von Gesprächen Erwachsener sowieso streng verboten, das Horchen hinter verschlossenen Türen überhaupt, zweitens dürfen weder der Vater noch die Mutter etwas von meinem nächtlichen Lesevergnügen und schon gar nichts von Marschenkas Taschenlampe erfahren, und drittens habe ich das dunkle Gefühl, daß die Geschichte, wenn sie wirklich Onkel Kurt und Tante Liesl betrifft, ein von den Eltern streng gehütetes Geheimnis bleiben wird.
Warum sagt keiner von beiden ein Wort darüber zu mir? Sie tun im Gegenteil so, als wüßten sie überhaupt nichts, was der Mitteilung wert ist, als habe sich gar nichts Erwähnenswertes ereignet. Dabei muß doch eine Nachricht gekommen sein, wahrscheinlich ein Brief, vielleicht sogar mit Grüßen an mich, aber nichts dergleichen wird vor mir erwähnt.
Ich warte während dem Mittagessen, bei dem ich nur wenig Suppe und ein paar Löffel Gemüse herunterbringe, weil mir der Hals wie zugeschnürt ist, ich überhöre ihre Ermahnungen, daß ich doch ordentlich essen soll, beobachte ihre Gesichter, aber sie verraten sich nicht. Ich warte den ganzen Nachmittag, treibe mich mit schwerem Herzen ständig in der Nähe meiner Mutter herum, bis ihr das auffällt und sie mich zur Rede stellt.
Was hast du denn, fragt sie, wirst du am Ende krank?
Jetzt müßte ich zugeben, daß ich ihr Gespräch mit dem Vater gehört habe, ich könnte Fragen stellen, aber ich traue mich nicht. Sie befühlt meine Stirn und findet, daß sie sich vielleicht doch etwas wärmer anfühlt als sonst, läßt mich die Zunge herausstrecken, die ist nicht belegt. Trotzdem, sagt sie, vorsichtshalber, du hast schon mittags kaum etwas gegessen, das kommt mir nicht ganz geheuer vor, am besten ist es, du legst dich ins Bett.
Ich traue mich nicht zu widersprechen, fühle mich ohnedies elend, ziehe mich aus und lege mich nieder. Draußen ist heller Nachmittag, die Sonne scheint schräg in mein Fenster, Alenka wird mich im Schwimmbad vermissen, das ist mir im Augenblick aber egal. Ich muß immer daran denken, wieso man jemanden, den man liebt und geküßt hat, nicht heiraten darf, weil er eine jüdische Großmutter hat. In keinem der Märchen, die ich gelesen habe, aber auch in keinem der Liebesromane, deren Inhalt mir die Marschenka geschildert hat, nicht einmal im allertraurigsten, kommt etwas Derartiges vor.
Am nächsten Tag darf ich wieder aufstehen, die Mutter ermahnt mich aber, ja nicht ins Schwimmbad zu gehen, weil man nicht weiß, ob sich nicht doch noch etwas entwickelt, sagt sie, und daß du mir heute nicht so verrückt mit dem Fahrrad fährst, hetz dich nicht ab, wenn du mir das nicht versprichst, mußt du zu Hause bleiben.
Ich verspreche, mich nicht abzuhetzen, obwohl es mir ja schon wieder ganz gut geht, hole mein Fahrrad aus dem Keller und kann gar nichts dafür, daß meine Füße immer stärker in die Pedale treten, es geht ganz von selbst, das Rad fährt immer schneller, im Handumdrehen bin ich bei den ersten Häusern von Klein Tarowitz, dort drehe ich um und fahre wieder zurück. Auf halbem Weg sehe ich, daß die Marschenka mir auf ihrem Fahrrad entgegenkommt, sie ist sicher zu ihrer Verwandtschaft in Klein Tarowitz unterwegs, ich winke ihr mit der rechten Hand, während ich mit der linken die Lenkstange festhalte, das kann ich schon gut, dann bremse ich mit dem Rücktritt, sie bremst ebenfalls und steigt neben mir ab.
Ich beschließe, ihr nichts von dem zu sagen, was ich in der Nacht gehört habe. Irgendwie muß ich mir aber doch Luft machen, und weil sie mir schon viele Fragen beantwortet hat und weil sie überhaupt sehr viel weiß, frage ich sie, ob man einem Menschen ansehen kann, daß er eine jüdische Großmutter hat.
Die Marschenka schaut mich ganz komisch an, dann fragt sie mich, wie ich auf so etwas Blödes komme.
Nur so, lüge ich, irgendwer hat von jemandem behauptet, daß er eine hat.
Wer hat das von wem behauptet, fragt die Marschenka streng und schaut mich dabei fest an.
Ich spüre, wie mir das Blut vom Hals herauf in die Wangen steigt, was immer passiert, wenn ich zu lügen versuche, hoffe trotzdem, daß die Marschenka es nicht bemerkt, kann aber nicht weiterlügen und sage: Das sag ich nicht.
Gut, sagt die Marschenka, wie du willst, du wirst schon wissen, warum du es nicht sagen willst. Wer will schon heutzutage ein jüdischer Mischling sein!
Und, frage ich hartnäckig, woran erkennt man die jüdischen Mischlinge?
Wieder schaut mich die Marschenka so merkwürdig an. Dann denkt sie einen Augenblick nach und sagt schließlich: Ganz leicht, sie haben überall rote Punkte auf der Haut.
Auch im Gesicht?
Natürlich auch im Gesicht, sagt die Marschenka, dann setzt sie sich auf ihr Rad und fährt in Richtung Klein Tarowitz oder Tarowitschky davon.
Ich weiß nicht, ob ich jetzt erleichtert sein darf oder nicht, aber vielleicht haben die Eltern bei ihrem Gespräch in der Nacht doch nicht den Onkel Kurt und die Tante Liesl gemeint, denn von roten Punkten auf der Haut von der Tante Liesl kann ja gar keine Rede sein. So etwas wäre mir sicher aufgefallen. Die Tante Liesl hat eine ganz glatte, zarte Haut, wie ein Pfirsich, hat meine Mutter einmal gesagt. Ihre Stimme hat dabei einen fast zärtlichen Klang gehabt. Sie hat mit diesem Vergleich ein besonderes Lob aussprechen wollen, aber die Pfirsiche, die auf unseren Bäumen wachsen, sind ja eigentlich nicht ganz glatt, sie haben eine ganz fein behaarte Haut, die sich von den reifen Früchten leicht abziehen läßt, was ich meistens tue, ehe ich sie esse. Wenn die Wangen von der Tante Liesl so ausgesehen hätten, hätte ich es sicher bemerkt.
Die Tante Liesl hat also weder Härchen noch rote Punkte im Gesicht, was das betrifft, könnte ich ganz ruhig sein, bin es aber doch nicht.
Ich fahre noch ein paar Runden am oberen Stadtplatz, dann hinunter zum Bahnhof, durch die Akazienallee und wieder zurück. Weil ich mich, was die Tante Liesl betrifft, etwas erleichtert fühle, trete ich sehr stark in die Pedale, auch den Stadtplatz hinauf steige ich nicht ab, es tut mir gut, mich so anzustrengen. Schließlich fahre noch einmal bei Alenkas Haus vorbei, sie ist nicht da, also radle ich heim.
Beim Mittagessen habe ich überhaupt keinen Appetit, es ist noch viel ärger als gestern. Nicht eimal die Suppe kann ich essen, obwohl sie sicher gut schmeckt, gar nicht zu reden von dem, was nachher kommt, Paprikahendl mit Nockerln. Wie die Marschenka die Schüssel auf den Tisch stellt, steigt mir der Geruch in die Nase und es wird mir schlecht. Ich muß ganz weiß im Gesicht sein, obwohl mir plötzlich sehr heiß geworden ist.
Die Mutter schaut mich erschrocken an, schreit um Gottes willen, das Kind hat ja hohes Fieber, zieht mich von meinem Sessel hoch, bringt mich ins Bett und steckt mir das Thermometer unter den Arm, der Vater kommt nach, zieht das Thermometer wieder unter meinem Arm heraus, schaut es an und sagt neununddreißigdrei, ich höre das nur undeutlich, meine Ohren sind wie mit Watte verstopft. Am nächsten Tag habe ich rote Pusteln im Gesicht und auf der Brust, es juckt und brennt, sie behaupten, daß ich die Schafblattern habe, sagen aber gleich dazu, daß sie sich das nicht erklären können und daß kein Mensch weiß, wie ich dazu gekommen bin, weil niemand in der ganzen Stadt in der letzten Zeit die Schafblattern gehabt hat.
Ich hab mir gleich gedacht, daß sie etwas ausbrütet, sagt die Mutter, sie ist gestern so merkwürdig gewesen. Sie weiß ja nicht, daß ich Angst habe, entsetzliche Angst. Wenn niemand weiß, wie ich zu den Schafblattern gekommen sein kann, dann könnte es ja auch etwas anderes sein, die roten Flecken könnten ja etwas ganz anderes bedeuten, etwas ganz Schreckliches, nämlich daß ich ein jüdischer Mischling bin und daß man das jetzt an den roten Flecken erkennt.
Zum Glück sind Schafblattern harmlos, sagt die Mutter, da heule ich los. Ich weine und schreie, ich kann gar nicht mehr aufhören zu weinen und zu schreien, die Mutter beugt sich erschrocken über mich, nimmt mich bei den Schultern, schüttelt mich, schreit mich in ihrem Schreck an, ich soll doch aufhören, ich soll doch ruhig sein, es ist ja nichts Schlimmes, alle Kinder bekommen irgendwann einmal die Schafblattern, das geht doch in ein paar Tagen vorbei, Kind, schreit sie, Elfi, hör doch auf, wovor fürchtest du dich denn so, was tut dir denn weh, mein Gott, was hast du denn nur, so hör doch auf, sei doch ruhig, beruhige dich doch! Ich kann mich aber nicht beruhigen, weil ich doch solche Angst habe, daß es nicht die Schafblattern sind.
Und dann muß ich mir einfach Luft machen, ich muß meine Angst loswerden, also schreie ich es heraus, wovor ich mich fürchte, wovor ich solche Angst habe, die ganze Geschichte schreie ich heraus, was ich in der Nacht gehört habe und was die Marschenka gesagt hat und daß die roten Flecken vielleicht gar keine Schafblattern sind, sondern ein Zeichen, daß ich ein jüdischer Mischling bin.
Nie vorher habe ich meine Mutter so erschrocken gesehen wie jetzt. Mein Gott, sagt sie nur, mit einer ganz fremden, heiseren Stimme, und noch einmal: Mein Gott! Dann setzt sie sich zu mir aufs Bett, nimmt mich in die Arme, drückt mich an sich und streichelt mich, was sie sonst nur sehr selten tut. Und dann sagt sie, daß ich überhaupt keine Angst zu haben brauche, weil das, was mir die Marschenka gesagt hat, ein absoluter Blödsinn ist, und daß es überhaupt kein Unglück ist, eine jüdische Großmutter zu haben, daß es nur wenige Leute gibt, die so etwas für ein Unglück halten, und daß auch diese wenigen Leute nur so denken, weil man es ihnen eingeredet hat und weil so zu denken einfach nur eine blödsinnige und saudumme Mode ist. Die Großmutter von der Tante Liesl, sagt meine Mutter, war eine ganz besonders liebe Frau.
Und warum, schluchze ich, will der Onkel Kurt die Tante Liesl dann nicht mehr heiraten?
Weil er, sagt die Mutter, allem Anschein nach zu diesen sehr dummen Leuten gehört, die sich die Mode, so zu denken, von anderen blöden Leuten haben einreden lassen.
Du hast wirklich nur die Schafblattern, sagt sie, das kannst du mir glauben.
Und jetzt, sagt sie, während sie aufsteht und noch ein bißchen an meiner Tuchent herumklopft, werde ich mit der Marschenka ein ernstes Wort reden.
Nein, sagt sie, wie sie mein schon wieder erschrockenes und ängstliches Gesicht sieht, und weil sie ja weiß, daß die Marschenka so etwas wie ein Freundin für mich ist, nein, du mußt dich nicht fürchten, ich werde ihr schon nicht den Kopf abbeißen! Dann geht sie aus dem Zimmer.
Ich weiß also jetzt, daß ich wirklich nur die Schafblattern habe. Daß es nur eine blödsinnige Mode ist, eine jüdische Großmutter für ein Unglück zu halten, glaube ich der Mutter auch und ich hoffe sehr, daß der Onkel Kurt zur Vernunft kommen und die Tante Liesl trotz ihrer Großmutter heiraten wird.
Ich muß also rasch gesund werden, damit ich bald wieder ins Schwimmbad gehen und radfahren kann. Bis dahin muß ich viel Tee trinken und viel schlafen, und die Alenka darf mich nicht besuchen, weil sie sich anstecken könnte. Auch lesen soll ich nicht.
So liege ich allein in meinem Bett und denke über den Onkel Kurt, die Tante Liesl, ihre Großmutter, den Eisenbahnbau in Amerika und die im Sterben liegende rote Rasse nach, vor allem über die Apachen und ihren Häuptling Intschu Tschuna und über seinen Sohn Winnetou, bis ich zum Nachdenken zu müde geworden bin und einschlafe.