Während um ihn herum Menschen ermordet wurden, nüchterner als er es in seiner alten Ordnung jemals gelernt hatte, Menschen in ihren Tod hineinzuverwalten, dachte er manchmal: Das hat nichts mit mir zu tun!, dann dachte er: Oder haben wir das, haben wir das vorbereitet, wir und unser Krieg, meiner, haben wir dieses Denken vorbereitet, dieses Sprechen und dieses Handeln, haben wir die Technik dazu vorbereitet und die Tatkraft, die Taktik des ewigen Angriffs, im Sinne der Vernichtung des Unterlegenen, des Schwächeren und damit Nicht-Lebenswerten? Doch wohl nicht, wir doch nicht. Das kannst du dir gar nicht vorstellen! Während er so herumdachte, blieb sein wirres Denken an jenen Sekunden gegen Ende des letzten Großen Krieges, seines Krieges, haften, jene oft wenigen Sekunden, wie ihm schien, die sein Leben verändert hatten.
Es waren nicht die Auszüge, Einzüge, Unterschriften auf wichtigen Befehlen gewesen. Es waren andere Momente gewesen, zum Beispiel die Ohrfeige in Belgrad oder der Rauch, der kleine Schritt weiter, über eine Grenze hinaus, die er immer gespürt, aber zuvor nie überschritten hatte. Erinnerungen an ein Zurück, die sich gegen ihn wendeten, weil er sie zu oft in die Nacht gedrängt hatte verschwimmen lassen wollen. Echos von Feuern, Stricken, Schießbefehlen. Diese eine Nacht, in der er, in eine fremde Hütte eingedrungen, den Schrei eines Mütterchens ignoriert hatte, in die gleiche Hütte, in die er später Fleisch mitgenommen hatte, täglich, nach Kriegsende. Wollen wir nicht alle Versöhnung, Vergebung, Vergessen, wollen wir nicht alle Ewigkeit und Amen? Das Fleisch niederlegen vor diese Augen, bitten um Erbarmen?
Draußen legten sie im damaligen Belgrad Kränze nieder, er aber wiederholte tagtäglich seine verzweifelten Fleischniederlegungen. Die Frau hatte immer fest geschlossene Lippen, sie waren ganz hart. Wenn er sie küssen wollte, musste er ihr die Lippen auseinanderbeißen, die Zähne aufstemmen mit seiner Zunge. Gab es kein Fleisch, was öfter als nur zuweilen vorkam, auch nach dem Krieg, fuhr er seine Arme aus oder seinen Hals, bedeutete ihr: Deines, wenn du willst! Erlaube mir, diese Haut aufzuschneiden, um dir zu zeigen, was sich darunter … Schlage deine Zähne in mein Fleisch und Blut. Da, nimm es dir, mein Leben, beiß zu. Sie biss nicht, mochte von diesem Leben, das noch immer nicht vorbei sein wollte, nicht kosten. So allein und so gedemütigt war noch nie jemand, dachte er, fühlte er. Er wusste von anderen Einsamkeiten, anderen Schmerzen viel zu wenig.
Dass damals in der Belgrader Kafana aus seinem Nicken, Weghören, Wegdenken, dass aus diesem Nicken ein Hinhören und Kopfschütteln geworden war?, und dass schließlich das Kopfschütteln noch begleitet wurde von seiner ungeheuerlichen Aussage – Das sehe er anders! –, wie war das möglich gewesen? Woher hatte er diese Kraft zur Auflehnung erhalten? War er nicht ein durchschnittlicher Mensch gewesen, ein ordentlicher Offizier mit ordentlichen Träumen, Wünschen, Hoffnungen? Zitronen hatte er sich versprochen von seinem Leben, blaue Himmelsausschnitte über seiner Sommerresidenz, einen Strohhut und einen Strohhalm zum darauf Herumkauen im Mohnfeld, eine rotbraune Erde, die er nicht zu erobern, nur zu beackern hätte als alter Mann, Wein anbauend im Karst, im slowenischen, von Hühnern umgeben und von sauberen Schweineställen, von noch saubereren Schweinen, die er nicht zum Abschlachten hochgezüchtet hätte, sondern um sie auf Trüffeljagd in seinen Karst zu schicken.
Das lange Echo | Leseprobe
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