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Kriegsjahre gingen über die Télème-Abtei-Schule auf dem Lavendelhof hin, ohne daß man sie dort anders verspürte als durch unwesentliche Einschränkungen in der Lebenshaltung, durch die immer häufiger und zahlreicher zu Häupten des Hofes kreisenden Flugzeuge – und durch Trauernachrichten über ehemalige Lehrer und Zöglinge: Antonius war in Libyen, Hal in Kreta, Jacques vor Dieppe gefallen; Petruchio war im Atlantischen, Horatio im Stillen Ozean untergegangen, Autolykus in Burma in seinem Flugzeug verbrannt.
Juli um Juli zogen sich Jünglinge und Mädchen in die Klausur der Prüfungszimmer zurück, wo sie die Fragen, die eine berühmte alte Universität ihnen stellte, nach bestem Vermögen beantworteten; September um September tauchten neue Gesichter, Stimmen, Haartrachten, Charaktere auf dem Lavendelhof auf; nicht viele von jenen, die sich an die ursprüngliche Situation der Télème-Abtei-Schule am Saum der Riesenstadt erinnerten, waren jetzt unter den Kandidaten in den Prüfungszimmern zu finden, noch hätte man jene Lehrer angetroffen, die einst mit den vor den Bomben Flüchtenden aufs Land gezogen waren, um sich dort mit stets neu hinzuwachsenden Schülergenerationen zu befreunden; diese vielmehr sahen ihre Meister immer häufiger ausgewechselt. Entweder, wen sie dem Militärdienst verfielen, oder, durch den wachsenden Lehrermangel im Werte steigend, an vornehmere öffentliche Schulen berufen wurden.
Wir sind nun im fünften Kriegsjahr und begleiten Madeleine de La Tour-Madrus auf ihrer Reise in den wilden Mittelwesten des Landes zur Télème-Abtei-Schule, die inzwischen allerdings, von den offiziellen Drucksorten abgesehen, ihren alten Namen eingebüßt, und von den Zöglingen, niemand wußte genau, wann und von wem, einen neuen, weniger pathetischen und rustikaleren, erhalten hat.
Madame de La Tour, in Paris als Tochter eines französischen Vaters und einer österreichischen Mutter zur Welt gekommen und erzogen, hat den Vorzug der Zweisprachigkeit, der sie in allen Lehreragenturen beliebt macht; danach befragt, sagt sie mit schöner Aufrichtigkeit, sie sei gar keine zünftige Schullehrerin: »Aber da ich nun fast zwei Jahre lang vergeblich auf ein Universitätslektorat für Kunstgeschichte gewartet habe und nicht länger Gastfreundschaft erleiden mochte, habe ich mich auf mein einstmals versehentlich erworbenes Brevet supérieur besonnen und eine Weile lehrend gelernt, wie man’s anstellen muß, um nicht geradezu als pädagogische Hochstaplerin – oder, sagte ich besser, Tiefstaplerin? – entlarvt zu werden: denn mit den eingeborenen legitimen Verwalterinnen eines Baccalaureats oder einer Magisterschaft für meine Vater- und Muttersprache kann ich’s selbstverständlich nicht aufnehmen!«
Dieser Stoßseufzer läßt vermuten, daß Madeleine (wir nennen sie wohl fortan besser bei ihrem Taufnamen) mit Prinzipalen und Kolleginnen keine durchweg angenehmen Erfahrungen gemacht hat. In ihrer Bescheidenheit gibt sie sich selbst die Schuld, findet es ganz natürlich, daß man sie als Eindringling und unwillkommenen Fremdkörper ansieht. Ausländer werden in einer geschlossenen, bodenständigen Gemeinschaft zwar mit äußerster Zuvorkommenheit aufgenommen, solange sie keinen Anspruch darauf machen, darin anderes als Gäste zu sein; haben sie aber den Ehrgeiz, ihr Wissen und Können als Mitstrebende und fachlich Gleichberechtigte zu verwerten, dann läßt man sie flugs ihre nationale Minderwertigkeit fühlen. Man liebt die Hausmannskost, zieht die heimische Aussprache des Französischen und der übrigen europäischen Sprachen der importierten bei weitem vor.
So unanfechtbar richtig Madeleines leidend erworbene Erkenntnis auch sein mag, täuscht sie sich dennoch, wenn sie darin die Auslegung für die Kurzfristigkeit ihrer Engagements und ihre Wanderhaftigkeit von Schule zu Schule erblickt. Zwar hat Madeleine praktisch die Seuche der Veränderungslust, welche die Prinzipale der meisten Privatschulen befallen hat, ausgeprobt, doch ohne zutreffende Würdigung der Ursache. Sie ist keineswegs auf romantische Abenteuersucht noch auf ein allzu labiles Nervensystem, das heute nicht mehr zu ertragen vermag, wonach es gestern noch lechzte – und am allerwenigsten auf den Hang zu psychologischen Experimenten zurückzuführen, sondern vielmehr aus ökonomischer Berechnung zu erklären. Neue Lehrkräfte sind billiger. Madeleine wird gelegentlich über den Grund ihrer erzwungenen Wanderhaftigkeit ein Licht aufgesteckt bekommen – aber noch nicht gleich …
Madeleine hat zu Weihnachten eine Reihe lockender Angebote aus allen Grafschaften des Landes zurückgewiesen und Leontes den Vorzug gegeben, nicht vielleicht, weil er unter allen Prinzipalen ihr das höchste Gehalt in Aussicht stellte (ja, sie hat sogar die Nachschrift, die – gleichsam schamhaft und bedauernd, daß man schließlich doch auch auf so meskine Tatsachen des wirtschaftliche Lebens zu sprechen kommen müsse – den Betrag festsetzte, erst nach Erteilung ihrer Zusage gelesen). Was sie lockte, war der Name der Schule: »Télème-Abtei.«