»Obacht!«, rief Molly laut, als sie in Maries Zimmer stürmte und sich in deren Bett fallen ließ, wo Marie sich stöhnend umdrehte und versuchte, Molly zu ignorieren. Diese zog Marie die Decke vom Kopf und beschwerte sich: »Du hast die Cornflakes aufgegessen!«
»Molly …«, erhielt sie lediglich verschlafen zur Antwort.
»Ja, ich bin es und ich möchte frühstücken!«
»Es ist sieben in der Früh.«
»Korrekt, hundert Punkte, du hast einen schönen Tag gewonnen.«
»Es ist Sonntag.« Marie stöhnte abermals.
»Kann trotzdem ein schöner Tag werden«, gab Molly zurück. »Ein Sonntag im Hochsommer ist immer ein Gewinn.«
Mollys selbstvergessene Fröhlichkeit an diesem Morgen erinnerte Marie an ihre eigene Lebenslust. Marie war nun wirklich kein trauriger Mensch. Wenn sie nicht gerade viel zu früh aufgeweckt wurde und völlig übermüdet war, klang ihr Lachen hell und häufig durch die Räume der Altbauwohnung. Im Wachzustand strahlten ihre Augen blau und sie konnte mit einem Affenzahn auf der Harmonika spielen. An manchen Tagen war es ein Leichtes für sie, den überbordenden immateriellen Reichtum in ihrem Leben zu erkennen. Dennoch: Im Gegensatz zu Molly war sie eher der ernsthafte Typ.
»Hallo?! Cornflakes?« Molly ließ nicht locker.
»Cornflakesbusserl. Party.«
»Ich verstehe überhaupt nicht, was du nuschelst. Was war gestern auf der Party?«
»Die Cornflakesbusserl, du hast sie selbst gegessen!«, antwortete Marie, nunmehr wach. Sie zupfte ein Konfetti aus Mollys dichtem Haar.
»Koriandoli«, stellte Molly strahlend fest.
Draußen rumpelte es, die beiden sahen sich an und spitzten mucksmäuschenstill die Ohren. Vier nackte Füße tappten über das Parkett im Gang, sie hörten geflüsterte Worte, dann das Zufallen der Balkontür.
»Anke!«, rief Molly mit spitzbübischem Lächeln.
Nichts rührte sich.
»Anke! Da dein Liebhaber die Fliege gemacht hat, kannst du dich doch zu uns gesellen!«
Endlich steckte Anke ihren Kopf in Maries Schlafzimmer. Sie sah schuldbewusst aus. Um das zu verbergen, warf sie sich bäuchlings auf das Bett und vergrub ihr Gesicht in der Bettwäsche.
»Du Luder!«, schimpfte Molly gut gelaunt und gab ihr einen Klaps auf den Hintern. Anke lachte. Insgeheim ärgerte sie sich darüber, dass sie so schlecht allein sein konnte und beneidete Molly und Marie um deren selbstverständliche Eigenständigkeit. Marie organisierte sich alles, was sie brauchte, auf eigene Faust und scheute sich nicht davor, im richtigen Moment um Hilfe zu bitten; Molly hingegen fand es umständlich, sich helfen zu lassen, weswegen sie meist mit einigem Fluchen, aber letztendlich doch erfolgreich das meiste in ihrem Leben allein reparierte.
»Wie schön, dass ihr euch so wohlfühlt in meinem Bett …« Marie gähnte. »Warum bist du überhaupt so früh auf, Molly? Als ich schlafen gegangen bin, hast du im Wohnzimmer noch zu Barry White getanzt, da war es bestimmt schon drei Uhr morgens.«
»Ich gehe in die Kirche«, antwortete Molly vergnügt. »Und im Übrigen tanzt es sich mit nichts besser ins Bett als mit ›You’re the First, the Last, my Everything‹.«
»Ist dir klar, dass diese Art von Musik nur dich zum Tanzen animiert? Du hast mit der Musikauswahl völlig versagt, falls ich das so sagen darf«, murrte Anke.
»Versagen ist großartig!«, antwortete Molly. »Je mehr Dummheiten ich mache, desto gescheiter werde ich in Summe.«
Mollys Gemüt bestand in erster Linie aus Sonnentagen, an denen ihre braunen Locken auf und ab wippten und ihre weißen Zähne beim Lachen strahlten. Selbst dann, wenn sie sich bei der Arbeit in der Schusterei mit unzufriedenen, von Hühneraugen geplagten Kunden herumschlagen musste oder nur drei Stunden Schlaf bekommen hatte. Das Einzige, was sie an den Rand der Verzweiflung brachte, waren Menschen, die stundenlang über Zahlenrätseln brüteten und darüber das Leben vergaßen. Sie empfand eine Leidenschaft für Falsche Forelle und seltene Wörter. Es war ein Leichtes, in der Weiträumigkeit von Mollys Herz einen Platz für sich zu finden.
»Was hast du momentan nur mit der Kirche, du wirst noch eine richtige Betschwester!«, murmelte Anke in die Decke hinein.
»Vielleicht solltest du auch mal Abbitte leisten, Fräulein. Eine Affäre mit seinem verheirateten Nachbarn fällt ganz bestimmt in die Kategorie Todsünde!«, gab Molly schlagfertig zurück.
»Oh Gott, hört auf, es ist Sonntagmorgen, wir könnten alle noch schlafen!«, ging Marie erschöpft dazwischen. Sie sah auf das Bild von Kasimir Malewitsch, das ihrem Bett gegenüber an der Wand hing. Das schwarze Quadrat auf weißem Grund verstärkte ihre Sehnsucht nach absoluter Gegenstandslosigkeit im Schlaf.
»Ja, es ist Sonntag!«, rief Molly. »Du solltest den Tag nutzen, anstatt ihn zu verschlafen. Erzählt mir eure liebste Schnitzelerinnerung!«
Marie gähnte. »Was soll das sein?«
»Bei den meisten Leuten gibt es sonntags Schnitzel. Demzufolge sind Erinnerungen an einen typischen Sonntag in der Kindheit Schnitzelerinnerungen«, erklärte Molly.
Anke richtete sich auf, an ihrem Hals prangte ein Knutschfleck. Molly drückte ihren Zeigefinger darauf: »Oh, là, là.«
Anke wischte Mollys Hand mit einem schelmischen Lächeln weg.
»Sonntags gab es bei uns morgens Kaffeesterz. Nach der Frühmesse kamen die Stammgäste, die bis Mittag in der Wirtsstube gesessen sind, Karten gespielt und geraucht haben. Um zwölf haben meine Eltern das Gasthaus zugesperrt und für uns gekocht – es hat wirklich meistens Schnitzel gegeben, mit Petersilkartoffeln. Am Nachmittag haben wir oft einen Ausflug gemacht oder ich bin durch den Wald gestreunt, auf der Suche nach vergrabenen Schätzen. Gefunden habe ich aber nur alte, mit Laub zugeschüttete Schützengräben. Manchmal haben mich meine Eltern einfach an den Bach gesetzt und gemeint, ich solle fischen, während sie ihren Mittagsschlaf machen. Am Abend haben wir meistens ›Kennst du Österreich?‹ gespielt.«
Anke verschwieg, dass es solche Sonntage nur sehr früh in ihrer Kindheit gegeben hatte; dass darauf Sonntage gefolgt waren, die sie entweder bei der Mutter oder beim Vater verbracht hatte, wobei damit meistens das Gefühl einhergegangen war, einen der beiden im Stich zu lassen oder einem der beiden zur Last zur fallen.
»Das hört sich ganz und gar nach einem gutbürgerlichen, österreichischen Sonntag an«, feixte Molly. »Ich muss jetzt los, ohne Frühstück, nachdem du alle Cornflakes vernichtet hast«, sagte sie an Marie gewandt.
»Cornflakesbusserl«, sagte Marie noch einmal, als Molly schon durch die Tür verschwunden war.
Das Glück im Großen und Ganzen | Leseprobe
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