Als der Fahrstuhl mit einem Ruck zum Stehen kam, legte Hawlicek mir eine Hand auf die Schulter. »Es ist erst halb eins«, sagte er, »und diese Runde sollten wir noch fertig spielen.« Er ließ seine Hand auf meiner Schulter liegen, während er auf eine Antwort wartete, und einen Augenblick lang fragte ich mich, ob Hawlicek mir gerade ein unanständiges Angebot machte. Aber in seinem Blick lag keine Koketterie, nur ein Hauch von Ungeduld, versteckt hinter einer dicken Schicht professioneller Gelassenheit, und ich begriff, dass dieser Typ schlicht und einfach ein Spieler war; ein exzellenter Spieler, keine Frage, aber einer, der es nicht aushielt, eine Partie unbeendet zu lassen. Besonders, wenn er glaubte, am längeren Ast zu sitzen. Kein Wunder, dass er in die Politik gegangen war und jetzt so erfolgreich seine Position behaupten konnte; beinahe hätte er auch mich eingewickelt mit seiner erhabenen Distanziertheit und seinen kleinen Manövern. Ich musste lächeln. Er hatte mich keineswegs durchschaut, weit davon entfernt. Im Endeffekt war sein Verhalten nicht mehr als ein Taschenspielertrick. Schade eigentlich.
Wir fanden ein offenes Wettcafé und setzten uns an einen Tisch in der Ecke. Im bläulichen Licht des Cafés sah Hawlicek älter aus; sein Doppelkinn offenbarte zwei zusätzliche Falten, und die Schatten unter seinen Augen, die seinem Gesicht in Illis warm beleuchteter Wohnung eine interessante Dreidimensionalität verliehen hatten, ließen ihn hier müde wirken. Er kramte Chips aus dem Pokerkoffer hervor – er hatte sich die genaue Anzahl für beide von uns gemerkt – und wir begannen zu spielen. Mittlerweile interessierte mich die Partie nur noch mäßig; ich studierte stattdessen Hawlicek, seine unmerklich zuckenden Wangen, die Art, wie er mit dem Zeigefinger über die Karten in seiner Hand strich, bevor er sie umdrehte und dann während des restlichen Spiels nicht mehr anschaute. Ich änderte meine Strategie, spielte mal unbesonnen und dann wieder vorsichtig, ließ ihn zappeln, merkte, wie er dem Spiel mehr und mehr verfiel. Erlaubte mir kleine Scherze, auf die er zuerst mit milder Herablassung reagierte; je mehr er verlor, desto unhöflicher wurde ich. Seine Contenance löste sich allmählich auf, seine Bemerkungen wurden angriffig, und ich bestrafte ihn für jeden scharfen Kommentar mit einer Zurückweisung am Kartentisch, verkaufte ihm die schönsten Blätter um viel zu wenig Chips, als wäre es mir egal, und er reagierte auf diese Gleichgültigkeit mit umso drängenderer Leidenschaft. Seine Spielzüge bettelten mich an, mehr zu setzen, ihm ein Full House nicht um den Preis eines Sechserpaares zu schenken, und ich ließ mich erweichen – im Gegenzug musste er seine Distanz aufgeben und sich auf ein Gespräch mit mir einlassen. Er dachte dabei, er hätte mich an der Angel, hielt die immer angeregtere Plauderei für seine eigene Taktik, um mich ans Spiel zu fesseln. Dabei war er viel zu sehr auf die Karten konzentriert, um zu begreifen, was wirklich passierte: Ich knackte ihn wie eine brüchige Walnuss. Er erzählte mir aus seinem Leben, von seinen Kindern – er hatte einen Sohn, Emil, und eine Tochter, Valerie. Den Sohn hatte er mit seiner zweiten Frau, er war noch in der Volksschule, und die Tochter arbeitete für die Partei, jettete zwischen Brüssel und Wien herum. Ihr Name kam mir bekannt vor, ich glaubte, ihn schon einmal in der Zeitung gelesen zu haben, und er nickte eifrig, ja ja, die Valerie, die ist ein tolles Mädchen, die hat jetzt schon mehr Kontakte als ich, aber viel zu wenig Zeit hat sie für ihren alten Vater, ich seh sie nur noch auf Parteiveranstaltungen – ihr solltet euch einmal kennenlernen, raunte er, ihr wärt euch sicher sympathisch. Sie sähe seiner ersten Frau so ähnlich, die ihn verlassen hatte und an der er immer noch hing und mit der er nun seit einem Jahr – ich unterbrach ihn, bevor er mir, um meine Pokergunst werbend, die Affäre mit seiner Ex beichtete. Das wäre zu viel gewesen, diese Information hätte er mir später nicht verziehen. Stattdessen lenkte ich das Gespräch auf seine politische Laufbahn, erfuhr über die Machtkämpfe des Kanzlers mit dem Geschäftsführer der Partei – ich achtete darauf, dass er mir nur unwesentlich mehr berichtete, als ich ohnehin schon aus den Nachrichten wusste. Schließlich wollte ich nicht, dass er am nächsten Tag glaubte, ich hätte ihn ausgehört. Um ihn nicht ganz alleine plappern zu lassen, redete ich über meine eigene Universitätskarriere, riskierte kleine Seitenhiebe gegen Pommer und ließ durchblicken, dass mir der Akademiebetrieb eigentlich zum Hals heraushing. Vielleicht doch der öffentliche Dienst …? sinnierte ich und schüttelte auf seine Frage, ob ich denn Unipolitikerfahrung hätte, den Kopf. »Dafür hab ich mich zu sehr auf mein Studium konzentriert«, sagte ich. Aber ich deutete außeruniversitäre Aktivitäten an, in Kanzleien und NGOs. Hawlicek taute immer mehr auf; er zeigte sich ehrlich interessiert an meinem Werdegang, und ich erfand ihm zuliebe kleine Heldengeschichten, beschrieb, wie ich mit einer zündenden Idee den Senior-Partner meiner Kanzlei aus der Bredouille befreit und behinderten Kindern das Fußballspielen beigebracht hatte.
Wir pokerten bis in die Morgenstunden. Hawlicek hatte verloren und auf einer Revanche bestanden, und obwohl ich bereits müde war, gab ich nach. Diesmal übte ich weniger Nachsicht mit seiner Spielleidenschaft; er fraß mir ohnehin schon aus der Hand. Ein paar Züge lang wog ich ihn in Sicherheit und nahm ihm dann alles mit dem ersten guten Blatt ab, das ich bekam. Er schäumte und wollte mich zu einer weiteren Partie überreden – versuchte, mich mit einer knackigen Geschichte über den Finanzminister und seine Sektionschefin zu bestechen. Ich hielt ihn höflich zurück. So etwas gehe mich ja im Grunde nichts an, und ich müsse jetzt wirklich ins Bett, ich hätte am nächsten Tag viel zu tun und nehme meine Arbeit sehr ernst. Das akzeptierte er schließlich und packte die Pokerkarten zusammen. Wir tranken noch ein Bier, und ich bemühte mich um ausgesprochene Freundlichkeit. Diese letzten Minuten waren wichtig; ich wollte nicht, dass er seine verbale Freizügigkeit später bereute, er sollte vielmehr das Gefühl haben, einen Freund in mir gefunden zu haben. Einen jugendlich bewundernden Freund, selbstredend. Also streute ich ihm Komplimente, versicherte ihm, noch nie eine so spannende Pokerpartie erlebt zu haben, und drückte ihm meine Faszination für sein bewegtes Leben aus. Ich tat so, als hätte ich seine Indiskretionen als Facetten seiner schillernden Persönlichkeit verstanden; die späte Stunde führte ich als Entschuldigung dafür an, dass ich ihm meine Begeisterung so unverblümt entgegenbrachte, und lieferte ihm damit auch gleichzeitig eine Entschuldigung für seine eigene Redseligkeit. Aus Dankbarkeit, oder vielleicht war es auch geschmeichelte Eitelkeit, erklärte er mir dann, dass er in mir ein Talent zu erkennen glaubte – einen Menschen mit Rückgrat und Intelligenz, »und das fehlt uns ja derzeit im Ministerium, und auch in der Partei. Wenn du einmal – ich darf du sagen – den akademischen Elfenbeinturm satt hast, dann meld dich bei mir«, sagte er und gab mir seine Karte. Ich schüttelte ihm ergeben die Hand: »Siegfried, es war mir eine Ehre.«