Im Laufe des Nachmittags sieht der Aktionsablauf vor, dass sich eine Handvoll Spielteilnehmer in die Ruine eines Häuschens, es dürfte früher einmal hier beschäftigten Gärtnern zur Verfügung gestanden haben, zurückzieht. Die Aktion dauert bereits ein paar Stunden. Im Stil einer Prozession schlängelt sie sich durch die weitläufige Anlage der Wein- und Öl-Gärten von San Martino, einer Anhöhe mitten in Neapel.
Akteure und Akteurinnen schleppen Holztröge mit Traubenmaische, die sie, ekstatisch trampelnd, an einer der vorangegangenen Stationen fabriziert haben. Weitere Tröge sind mit Tomatenmark gefüllt – Polpa, der Region geschuldet, aber auch, weil sich Tierblut, aufgrund der hohen Außentemperaturen, über einen längeren Zeitraum nicht verwenden lässt.
Inmitten des Gemäuers beginnen die Akteure, wie in der Partitur vorgesehen, einander mit dem Inhalt der Tröge zu bewerfen. Rasch steigert sich die ausgelassene Stimmung, verfällt in die spielerische Dynamik einer Schneeball- oder Polsterschlacht. Unter den Anwesenden herrscht Verbundenheit. Gemeinsames Proben hat eine Gruppe aus ihnen geformt.
Mittlerweile sind weitere Akteure und Akteurinnen hinzugekommen. Sie haben einen Eimer mit Gedärmen mitgebracht. Eine Lunge, Leber, ein Stück Magen, Gekröse. Etwas Ekliges mischt sich in das Spiel. Auf einmal ist man vor allem darauf bedacht, Geschoßen auszuweichen. Nach und nach greifen spielerischer Übermut und das Bemühen, sich schadlos zu halten ineinander. Die liebevolle Botschaft einer Handvoll Trauben und das gezielte Werfen der Milz eines toten Tieres. Ein Batzen Tomatenmark wie blutiger Schnee, von der Sonne aufgeheizt, eisenhaltig. Gefahr droht vom unterschwelligen Geruch allmählichen Vergammelns infolge von Sterben. Das anfänglich beständige Kichern wird immer öfter von Kreischen unterbrochen.
Inzwischen haben sich Musiker rund um die Bruchbude versammelt. Sie halten Trompeten, Posaunen und Hörner durch die Fensteröffnungen ins Innere und blasen, was das Zeug hält. Alle einen einzigen Ton, egal welchen, jeweils so lange wie möglich, immer wieder, so laut sie nur können. Lärmende Atemzüge, Brandung dröhnender Schallwellen. Die Stimmung im Inneren, irgendwo zwischen totaler Ausgelassenheit und zunehmender Bedrohung wird um ein alarmierendes Element erweitert. Die stets von Neuem hereindringenden Töne, im Grunde nur ein einziger, hängengeblieben in seinem Echo, machen deutlich, dass es sich nicht um eine Warnung vor etwas handelt, sondern um einen Ist-Zustand höchsten Grades.
Von außen kann eigentlich kaum jemand gesehen haben, was im Inneren vor sich ging – nicht einmal die Musiker. Die hielten ihre Augen vor Anstrengung geschlossen.
Der Anblick ist aber auch nur eine der zahlreichen Facetten einer Aktion von Hermann Nitsch. Obwohl das Orgien-Mysterien-Theater, fest in der bildenden Kunst verankert, alles Visuelle bevorzugt behandelt, ist und bleibt die ideale Form seiner Rezeption die Spielteilnahme.
Die hier ausschnittweise geschilderte 96. Aktion, durchgeführt Mitte der 1990er-Jahre, war eine der wenigen, in der ich mich, zumindest vorübergehend im Zentrum des Spielgeschehens wiederfand. Üblicherweise war meine Rolle während der Jahre, die ich für Hermann Nitsch tätig war, soweit es Aktionen betraf, die eines Regieassistenten, Requisiteurs, Koordinators. Außerdem war ich für das gezielte Verabreichen von Blut zuständig. Direkt am Körper hantieren nur einige wenige mit Blut, weil es dabei eine Menge zu berücksichtigen gilt.
Aktionen fanden in jenen Jahren allerdings nicht allzu viele statt, da alles auf die Vorbereitung des 6-Tage-Spiels (1998) hinauslief.
Mein Aufgabengebiet konzentrierte sich eher auf das Betreuen von Ausstellungen. Erweitert um gelegentliches Assistieren beim Malen, die redaktionelle Mitarbeit an Buchpublikationen und Musikträgern, das Erstellen eines Fotoarchivs, das Beantworten von Anfragen von Presse, Museen, Ausstellungshäusern und wissenschaftlichen Institutionen. Hinzu kamen unterschiedliche Projekte, zu denen Hermann Nitsch in dieser Periode eingeladen wurde. Von diesen ist wohl das Konzipieren des Bühnenbildes und der Ausstattung für die Jules-Massenet-Oper Hérodiade an der Wiener Staatsoper hervorzuheben (1995). Nicht gerade Nitschs Lieblingskomponist – welche Genugtuung für ihn, dass er sich am Ende seines Lebens noch an Richard Wagner hat versuchen dürfen.
Da ich meine Zeit sonst nicht damit verbringe, in Erinnerungen an diese Jahre zu schwelgen, kann es eigentlich nur purer Zufall gewesen sein, dass ich, als mich die Nachricht vom Tod Hermann Nitschs erreichte, gerade eine Anekdote über meine allererste Tätigkeit für sein Orgien-Mysterien-Theater niedergeschrieben hatte. Es geht darin um das Musizieren mit einer Ratsche im so genannten Lärmorchester.
Von einem Moment zum nächsten sahen sich Tränen, die mir eben noch vor unterdrücktem Lachen in die Augen gestiegen waren, von Bitterkeit getrübt. Was ein humorvoller Rückblick auf einen Abschnitt meiner Vergangenheit hätte werden sollen, verwandelte sich mit einem Mal in einen Nachruf, in die Verabschiedung eines Menschen, der mir viel bedeutet hat. Diese erfolgt – das weiß ich – auch im Namen anderer, vieler, die Hermann Nitsch gekannt und, wie ich, das Privileg genossen haben, Zeit mit ihm zu verbringen.
Ich muss nicht lange über ein geeignetes Beispiel nachdenken, um zu veranschaulichen, was mich an Nitschs Einstellung dem Leben gegenüber so faszinierte. Die kunsthistorische Dimension soll dabei gar nicht außen vorbleiben. Im Zusammensein mit Nitsch ist sie mir nämlich im menschlichen Format begegnet, in einer Menschlichkeit, deren Spektrum an Gefühlen sogar eine alberne Geschichte wie die mit der Ratsche miteinschließt. Dem Instrument als Geheimagent des Alltagslärms, als Provokateur der Volkstümlichkeit inmitten eines gediegenen Orchesters, verstärkt durch zwei Chöre. Auf das Einsatzzeichen des Dirigenten beinahe wie zum Hohn mit verbissenem Gesichtsausdruck in der geballten, rotierenden Faust geschwungen, gewissenhaft der gleichen Partitur folgend wie die Streicher und Bläser. Und selbst für meine Mutter – sonst nicht so der Fan avantgardistischer Kunst – gab es da was zum Staunen, hatte sie am Telefon doch verstanden, mein Instrument wäre die Bratsche.
Eine Bandbreite ausgelassener Ernsthaftigkeit, heiterer, wütender Kreativität, aufrichtigen Akzeptierens jeder Widrigkeit und schließlich versöhnlicher Traurigkeit, wie sie mein Andenken an Hermann Nitsch jetzt gerade bestimmt.
Vielleicht ist das die richtige Stelle für ein paar allgemeinere Worte, nicht unbedingt aus kulturgeschichtlichem Pflichtbewusstsein, sondern Nitschs Faible für die historische Dimension zuliebe.
Mit Hermann Nitsch hat die Welt, die nicht aus Kunst allein besteht, einen der letzten Vertreter der historischen Avantgarde verloren. Einen jener Visionäre, für die das Ziel schöpferischer Kreativität darin besteht, die Kunst mit dem Leben zu vereinen. Wann die beiden begonnen haben, sich voneinander zu entfernen, kann ich nicht genau sagen. Es wird wohl ungefähr zur selben Zeit gewesen sein, als Wissenschaft, Philosophie und Religion beschlossen, getrennte Wege zu gehen.
Sein als Gesamtkunstwerk angelegtes Projekt, das Orgien Mysterien Theater, konzipiert Nitsch um 1960 und realisiert bald darauf bereits erste Versionen. Zuvor haben ihn vor allem expressiv ausgerichtete Werke beeindruckt, darunter Malerei ebenso wie Text und Musik. Seine eigenen Bemühungen, sinnliche Zustände zu beschreiben, darzustellen und auf diese Weise nachvollziehbar zu machen, führten zunächst jedoch zu keinen zufriedenstellenden Ergebnissen. Das brachte Nitsch auf die Idee, sich nicht mehr damit zu begnügen, Gefühlszustände mit sprachlichen, bildnerischen oder musikalischen Mitteln zu rekonstruieren, sondern die Rezipienten seiner Kunst in den kreativen Prozess zu integrieren und direkt mit Substanzen, Klängen, Gerüchen zu konfrontieren. Aus Betrachtern werden Spielteilnehmer, aus Verweisen reale Erlebnisse.
Nachdem es Hermann Nitsch Ende letzten Jahres gesundheitlich sehr schlecht gegangen war, erleichterte es mich zu hören, dass er sich kürzlich dazu entschlossen hatte, Ende Juli 2022 eine auf zwei Tage komprimierte Version seines 6-Tage-Spiels in Prinzendorf zu realisieren. Umso trauriger stimmt es mich, dass von nun an sämtliche Aufführungen des O.-M.-Theaters ohne seinen Gründer auskommen werden müssen.
Stattfinden werden sie jedoch, was – abgesehen von einigen Getreuen – nicht zuletzt einem, von Nitsch über Jahrzehnte ausgearbeiteten, bisher weitgehend unterschätzten Partituren-System zu verdanken ist. In diesem finden sich sämtliche Spielabläufe synchron zur dazu vorgesehenen Musik notiert.
Um einen Text, der ewig weitergeschrieben werden müsste, zu beenden, kehre ich zurück an seinen Anfang. In die Häuserruine, umgeben von exzessiver Ausgelassenheit, Alarm, Früchten, Gedärmen, hysterischem Lachen, Wein, Blut und ohrenbetäubender Musik.
In meinem bisherigen Leben hatte ich das Glück, in keine kriegerischen Situationen verwickelt zu werden. Einige von ihnen kamen zuweilen recht nahe an mich heran. Gerade jetzt ist es wieder einmal soweit. Wenn ich Bilder der Auswirkungen kriegerischen Geschehens auf zivile Einrichtungen sehe – zerbombte Häuser, entzweigerissen, einen obszönen Blick auf menschliches Leben in seiner Normalität freigebend, Betten, Toiletten, Kleiderschränke, Kücheninventar usw., muss ich unweigerlich an jene Momente in einem trotz allem behüteten Chaos denken.
Heute sind meine Gedanken bei einem 1938 in Wien geborenen Künstler, dessen sechstes und siebtes Jahr als Mensch sich vor einer täglich wachsenden Kulisse zerbombter Häuserruinen abgespielt haben. Vor ein paar Tagen ist er dreiundachtzig-jährig verstorben.