Christian Cimpa hat den Roman »Turstrato 4« des Wiener Autors Hans Weinhengst aus dem Esperanto ins Deutsche übersetzt. Auf Textlicht erzählt er von den Besonderheiten der Plansprache Esperanto und der Übersetzungsarbeit.
Wie sind Sie auf Hans Weinhengst gestoßen und wie kam es zur Übersetzung seines Romans »Turmstraße 4«?
Christian Cimpa: Die Plansprache Esperanto hat sich seit ihrem Beginn (1887) an den Klassikern der Weltliteratur gemessen. Etwa zur gleichen Zeit wie die Übersetzungen von »Hamlet« (1894), »Der Revisor« (1907), »Iphigenie auf Tauris«, »George Dandin«, »Die Räuber« (alle 1908) erfolgte die schrittweise Übertragung der einzelnen Bücher des Alten Testaments in die junge Sprache. Knapp nach Beginn des 20. Jahrhunderts bildete sich schließlich im Gefolge des ersten original in Esperanto verfassten Romans (Henri Vallienne: Kastelo de Prelongo, 1907) sehr schnell eine eigenständige Literatur heraus, deren Entwicklung durch globale politische Krisen zweimal abrupt, doch nie nachhaltig unterbrochen wurde. Der im Jahr 1934 veröffentlichte Roman »Turstrato 4« (sprich: Turstrato kvar) erschien auf dem Höhepunkt der zweiten Welle bedeutenden literarischen Schaffens, die durch die Vorboten des Zweiten Weltkriegs bald darauf erneut vorübergehend abebbte. Weinhengsts Werk zählt zu den Klassikern der Plansprachenliteratur und zum allgemeingültigen Bildungsinventar der intellektuellen Elite der weltweiten Sprechergemeinschaft. Ich persönlich hatte meine erste Begegnung mit dem Roman bereits während der Zeit, als ich Esperanto lernte, etwa im Sommer 1988. Dazu hat wohl auch der lokale Bezug beigetragen, immerhin spielt sich die Handlung vor allem im 10. Wiener Gemeindebezirk Favoriten ab. Obwohl mich der Roman im Original sehr beeindruckt hat, hätte ich nie an eine Übersetzung gedacht. Diese wunderbare Idee hatte im Sommer 2016 schließlich Kurt Lhotzky.
Es gibt ja bedauerlicherweise höchst selten literarische Übersetzungen aus dem Esperanto. Hatten Sie bei der Übersetzungsarbeit Vorbilder oder sind Sie einfach frisch von der Leber weg vorgegangen?
Christian Cimpa: Nachdem meine Leber ein höchst verlässliches Organ ist, habe ich ihr auch dieses Mal gerne vertraut. Meine Leitidee zu Anfang der Übersetzungsarbeit war, den Originaltext möglichst schonend zu behandeln, Hans Weinhengst nicht allzu viel ins Handwerk zu pfuschen. Dass das nicht funktionieren würde, war allerdings ab der ersten Seite klar, und auch, dass ich Verantwortung würde übernehmen müssen. Ich war gezwungen, an mancher Stelle selbständig zu formulieren, konnte mich nicht am roten Faden Weinhengst’schen Ausdrucks entlangbewegen, sondern wurde ins freie Feld der schier unendlichen sprachlichen Möglichkeiten abgedrängt. Meine Frage war dann: Wie hätte Weinhengst das auf Deutsch geschrieben? Zum Glück war ich bei der Übersetzung nicht alleingelassen, vielmehr begleitete eine äußerst kompetente Kollegin, Andrea Sochurek, den Fortschritt von Beginn an. Sie war nicht nur eine ausgezeichnete Lektorin, die viel zur Qualität der Arbeit beitragen konnte, sondern fand durch ihre ausgedehnten Recherchen auch heraus, dass Weinhengst bei der Komposition von »Turstrato 4« Anleihen bei Hugo Bettauer genommen hat. Das gilt auch für die Konzeption seiner Figuren, die in ihrem archetypischen Erscheinungsbild, in ihrer kraftvollen Schlichtheit an die Protagonisten von Bettauers »Die freudlose Gasse« erinnern. Die Parallelen sind nicht sehr auffällig und erschöpfen sich in strukturellen Ähnlichkeiten, und doch ist eine Anlehnung des einen Romans an den anderen sehr plausibel. Mir kam diese Entdeckung sehr gelegen, hatte ich doch dadurch eine Vorstellung, wie Weinhengst sich sein Buch im Deutschen vorgestellt haben könnte.
Gibt es Besonderheiten beim Übersetzen aus dem Esperanto bzw. konkret bei diesem Buch? Was waren die Schwierigkeiten, die Sie überwinden mussten?
Christian Cimpa: Nun, mir hat vor allem eine Eigenart des Esperanto einen Streich gespielt, die sich sonst als sehr segensreich erweist: Esperanto gehört zum Typus der sogenannten »Welthilfssprachen«, deren erklärtes Ziel es ist, eine Kommunikationsbasis zwischen Personen mit unterschiedlichen Muttersprachen herzustellen. Der daraus abgeleiteten Forderung nach möglichst leichter Erlernbarkeit dient neben der regelmäßigen Grammatik auch höchste Lernökonomie im Bereich der Lexik. Der Erwerb eines ausreichenden Wortschatzes erfolgt im Esperanto sehr effizient, weil jedem Wort durch voran- oder nachgestellte Bildungssilben mehrere Bedeutungen abzugewinnen sind. Aus dem Wortstamm »warm« (Esperanto: »varm-«) können auf diese Weise gebildet werden: warm, Wärme, heiß, Hitze, kalt, Kälte, kühl, lau und andere, ohne dass dafür neue Vokabeln gelernt werden müssen. Die sich daraus ergebende Reduktion der Wortstämme hat zwangsläufig eine höhere Wiederholungsrate zur Folge, was sich auf die Sprachwahrnehmung auswirkt: Im Esperanto haben Wortwiederholungen nicht das Stigma einer qualitativen Beeinträchtigung. Das gilt für Gesprochenes ebenso wie für verschriftete Gebrauchstexte. Im Bereich der Literatur kann man sich nur mit Einschränkung auf dieses Prinzip verlassen, weil jeder, der Esperanto spricht, auch in mindestens einer anderen Sprache ästhetisch geschult ist, und von dort Erlerntes mitbringt. Will man sich als Literat profilieren und von der Alltagssprache abheben, vermeidet man daher Wiederholungen von Wortstämmen in allzu kurzen Abständen. Das wiederum hat Weinhengst vermieden. Er begriff sich als Angehöriger einer unteren sozialen Schicht und stand unbeugsam dazu. Er wollte sich von bürgerlichen Wertvorstellungen, die er als zweigesichtig und im Grunde unmoralisch begriff, klar distanzieren. Und er wollte seinen Roman in der Sprache des »kleinen Mannes« verfassen, als der er sich selbst sah. Weinhengst hat somit die Wortwiederholung als Stilmittel verwendet, als formales Zuordnungskriterium, als Ausdruck seiner ungebrochenen Solidarität. Meine Versuche, das in irgendeiner Form bei der Übersetzung zu erhalten, scheiterten ausweglos. Und wenn mein Vorrat an Synonymen ausging, dann musste ich umformulieren.
Christian Cimpa lebt in Wien und arbeitet im Esperantomuseum der Österreichischen Nationalbibliothek. 2017 erschien seine Übertragung von Hans Weinhengsts Roman »Turmstraße 4«.
Hans Weinhengst, 1904 in Niederösterreich geboren, 1945 in Berlin gestorben, war im Widerstandskampf der österreichischen Arbeiter gegen den Faschismus aktiv und ein führendes Mitglied der sozialistischen Esperanto-Bewegung. Er publizierte Lyrik und Prosa und übersetzte Arbeiterlieder in Esperanto. 1934 erschien sein Roman »Turstrato 4« im Budapester Esperanto-Verlag Literatura Mondo.
Fotos:
1. Christian Cimpa bei der Präsentation der deutschen Ausgabe von »Turmstraße 4« (© Uwe Stecher)