Wolfgang Popp über verschwindende Figuren, eine pervers-rätselhafte Schnitzeljagd und warum er nicht mehr darauf warten muss, bis ihn die Muse küsst.
Hanna Biller: In Deutschland lebt ein emeritierter Germanist mit Namen Wolfgang Popp. Hast du von diesem Namensvetter schon mal etwas gehört?
Wolfgang Popp: Ja, ein Experte für homosexuelle Literatur. Aber wir sind weder verwandt, noch bin ich Germanist, ich bin ja Sinologe. Einen Tennisspieler gibt’s auch, der so heißt. Der ist aber nicht so erfolgreich, da seh ich schon eher Parallelen. (lacht.)
Du arbeitest ja als Kulturredakteur bei Ö1 und bist demnach sehr häufig selbst der Interviewende. Wie fühlt es sich für dich an, auf der anderen Seite zu stehen und der zu sein, der interviewt wird?
Popp: Ich finde es sehr angenehm, einmal der sein zu können, der den Sager bringen muss. Und weil ich ja weiß, worauf ich beim Interviewen warte, hoffe ich dann, in etwa das geben zu können, was sich mein Gegenüber von mir erwartet.
Kannst du sagen, ob dir das eine oder das andere lieber ist?
Popp: Nein. Ich mag eigentlich die Mischung, den Seitenwechsel ganz gern. Dieses Umstellen im Denken, einmal der Fragende zu sein, einmal der Antwortende zu sein, oder mitunter auch der Antwortende, der Fragen aufwirft.
Es gibt ein paar Fragen, die sich mir beim Lesen deines Romans »Die Verschwundenen« förmlich aufgedrängt haben. Zum Beispiel ob es reale Vorbilder für die Figuren des Textes gibt?
Popp: Ein Schulfreund und Klassenkollege von mir, der auf tragische Weise verstorben ist, der also tatsächlich verschwunden ist, hatte gewisse Eigenarten, die ich auf mehrere Figuren im Buch verteilt habe. Es gab auch einen Lehrer, den ich sehr geschätzt habe, der war tatsächlich Lateinprofessor, hat aber abgesehen davon und seiner Vorliebe für Epikur nichts mit dem Lehrer im Buch gemein. Aber ansonsten ist alles fiktiv, für den Handlungsverlauf zum Beispiel gibt es keine Vorbilder und auch keine nahen Verwandtschaften zu irgendwelchen real existierenden Figuren. Es sind wirklich nur feine Charakteristika, die ich einmal da und einmal dort hingesetzt hab. Ich kann mir zum Beispiel auch nicht vorstellen, dass sich abseits dieser Epikur-Euphorie der Lehrer hier wiedererkennen würde.
Hast du die Orte, die in dem Buch beschrieben werden, selbst besucht?
Popp: Teils teils. In Pompeji und im Amazonas-Dschungel war ich noch nie, da würde ich sehr gern einmal hinfahren. In Sri Lanka und in Cambridge war ich aber. Ich glaube, ich gehe mit Orten sehr unterschiedlich um, je nachdem ob ich dort war oder nicht. Oft habe ich das Gefühl, der Ort muss mehr mitreden oder ich möchte wissen, was der Ort zu der Geschichte zu sagen hat.
Das war vor allem in der Cambridge-Geschichte der Fall. Ich hatte den ungefähren Verlauf der Geschichte und die Figuren schon, dann bin ich an den Ort gefahren, um zu testen, ob diese Geschichte hier stattfinden könnte. In Cambridge habe ich ein Haus gefunden und wusste sofort, das ist das Haus, in dem die Figur wohnt. Gleichzeitig hat das Haus aber alles von meiner bisherigen Figurenkonzeption zunichtegemacht. Das heißt, dieses doppelte Spiel, das die Figur sowohl mit ihrer neuen Umgebung in Cambridge als auch mit ihrer alten Umgebung in Wien spielt, dieser doppelte Boden der Figur hat sich eigentlich erst über den Ort ergeben.
Und fällt es dir dann schwer, so etwas zuzulassen? Man muss in so einer Situation ja seine Geschichte auch loslassen können.
Popp: In diesem Fall war der Ort wie ein Rufzeichen, wie ein Pistolero, der gezogen und gesagt hat: »Hände hoch, du hast keine Chance. Alles folgt jetzt meinem Kommando.« Das war für mich sehr interessant, dass ein Ort sich so stark einbringen kann, ja handlungsgebend sein kann und nicht nur als hübscher Schmuck, als Folie oder als schöner Hintergrund fungiert.
Ich bereite gerade eine Ausstellung darüber vor, wie Orte in mein Schreiben Einfluss nehmen (Anm.: ab 3.3.2016 im Literaturhaus Wien). Im Zuge dessen bin ich draufgekommen, dass das mittelhochdeutsche platz sowohl Ort, also Platz, als auch Tanz heißen kann. Natürlich hat sich das wahrscheinlich auch daraus ergeben, dass am Platz getanzt wurde, aber ich hab sehr interessant gefunden, dass anscheinend im Ort auch schon eine gewisse Choreografie eingeschlossen ist, also dass jeder Ort eine gewisse Vorgabe macht, was die Beweglichkeit oder die Bewegungen der Figuren anbelangt. Jeder Ort gibt demnach einer Figur eine gewisse Bewegungsrichtung und gewisse Möglichkeiten vor und schließt gleichzeitig andere aus.
Kann es sein, dass es auch mit den verschiedenen Orten in dem Roman »Die Verschwundenen« zusammenhängt, dass du für die verschiedenen Geschichten eigentlich sehr unterschiedliche Textsorten, oder wenn man so will Genres, gewählt hast? Kann es sein, dass es korreliert, welche Art von Geschichte es ist und an welchem Ort sie spielt?
Popp: Ja, das kann sehr gut sein. Ich hab ja tatsächlich versucht, verschiedene Genres zu schreiben, also eine eher melancholische Geschichte, eine schwule Liebesgeschichte, einen Psychothriller. Und es ist tatsächlich so, dass der Ort vielleicht nicht nur den Handlungsverlauf, sondern überhaupt den ganzen Geschmack der Geschichte vorgibt. Im Englischen sagt man ja auch the taste of places. Da ist das, glaube ich, insgesamt gängiger, dass man im Zusammenhang mit Orten oder Städten von taste oder flavour spricht, dass es da also wirklich so eine Art Geschmacksfärbung gibt und damit vielleicht schon auch eine Art Genrefärbung.
War die Geschichte von vornherein schon als Roman geplant oder eher als einzelne Episoden?
Popp: Das verbindende Element sollte auf alle Fälle dieses Verschwinden sein, ein Verschwinden in verschiedenen Intensitätsgraden. Und dann hab ich mir gedacht, warum jetzt nicht noch so zarte Fäden knüpfen zwischen den einzelnen Geschichten, fast so wie bei einem Staffellauf, bei dem ein Hölzchen weitergegeben wird. Nur dass sich hier erst nach und nach erschließt, was das für ein Hölzchen war und wie das reinspielt. Eine ganz enge Verknüpfung gibt es ja eigentlich nur zwischen dem ersten und dem letzten Kapitel. Ansonsten sind es eher Bekanntschaften.
Dass man Figuren, die man zuerst von innen kennenlernt, dann auch noch einmal kurz von außen sieht und möglicherweise dann auch noch aus verschiedenen Richtungen, das finde ich immer interessant. Dass man Figuren innerhalb eines Buches auch aus verschiedenen Blickrichtungen wahrnehmen kann oder dass eine Figur eine gewisse Entwicklung mitmacht, ist eh klar. Das ist eigentlich romaninhärent. Interessant wird es dann, wenn in dieser Entwicklung so plötzliche Sprünge oder gewisse Dinge passieren, die man der Figur nicht zugetraut hätte.
Mein neues Buch ist durchgehend in der Ich-Perspektive erzählt, aber man merkt da auch, dass man sich auf den Ich-Erzähler gar nicht so verlassen kann. Da ist dieser Wechsel bzw. dieser Bruch innerhalb einer Perspektive untergebracht.
Bleiben wir gleich kurz beim neuen Buch, deinem mittlerweile dritten Roman »Wüste Welt«, der im Januar 2016 in der Edition Atelier erscheinen wird. Verschwinden da auch wieder Personen?
Popp: Einer ist verschwunden. Ein Mann sucht seinen Bruder. Ich hab mir gedacht, weil im letzten Buch die Verschwundenen alle von alleine zurückgekommen sind, wird es diesmal eine Suche. Ein Roadnovel, eine Geister-Geschichte ohne Geister und ein Wüstentagebuch. Vielleicht auch ein bisschen eine pervers-rätselhafte Schnitzeljagd, wo eben immer wieder Hinweise auftauchen und man sich aber die ganze Zeit fragt, warum er nicht einfach auf seinen Bruder wartet und warum sie nicht gemeinsam weiterfahren. Stattdessen fährt er voraus und hinterlässt immer nur Hinweise darauf, wo er sein könnte.
Wo spielt die Geschichte?
Popp: In Marokko.
Ich nehme an, du warst auch in Marokko?
Popp: Bei der Geschichte habe ich quasi das, was ich in der Cambridge-Geschichte bei den Verschwundenen gemacht habe, noch einmal in radikalerer Form gemacht. Die Geschichte war in Grundzügen vorskizziert, ich habe gewusst, es geht um eine Suche, bei der aber nicht klar ist, was mit dem anderen eigentlich ist. Und dann bin ich – quasi als der Suchende – hingefahren und hab mich tatsächlich auf die Suche nach diesem Phantom gemacht. Aber ich bin dann schon auch wieder völlig ausgeschert. Ich glaube, das ist auch eine ganz wichtige Sache, und das finde ich auch einen interessanten Rhythmus, dass man sich dann auch immer wieder von tatsächlichen Orten befreit und die Kraft oder die Richtung von der Figur vorgegeben wird. Ich halte das für ein wichtiges Rhythmus-Element im Roman.
Hast du selbst einen Bruder?
Popp: Ja. Der ist aber noch nie ausgebüchst. Da ist überhaupt nichts Autobiografisches drin. Ich bin auch noch nie nach meinem Bruder auf die Suche gegangen. Er aber auch noch nie nach mir. (lacht.) Ich hoffe, dass uns das erspart bleibt, dass wir uns gegenseitig durch die marokkanische Wüste jagen.
Noch kurz zu deinem Schreiben. Wie funktioniert das literarische Schreiben für dich, du hast ja auch einen »normalen Tagesjob«. Sperrst du dich eine Zeit lang ein, schreibst du in der Nacht oder zwischendrin kurz einmal immer wieder?
Popp: Das Schreiben muss das Erste am Tag sein, das kann nicht irgendwann dann noch zusätzlich erfolgen. Deswegen schreib ich eigentlich nur an freien Tagen, an Wochenenden oder im Urlaub, aber durch die journalistische Praxis bin ich’s einfach gewohnt, dass ich funktioniere, wenn ich mich hinsetze. Ich warte dann nicht auf irgendeinen Musenkuss. Da wird der Schalter umgelegt, und dann radelt’s gewöhnlich dahin. Ich hab dann sehr intensive Schreibphasen, die aber nie sehr lang sind. Von Uwe Tellkamp hab ich einmal gelesen, dass er sich in der Früh hingesetzt und losgeschrieben hat und irgendwann hat er gemerkt, er hat solchen Hunger und dann hat er gesehen, dass es inzwischen 22 Uhr abends ist und er überhaupt nicht mitbekommen hat, dass er zehn, zwölf, 13 Stunden am Schreibtisch gesessen ist. So etwas ist mir unbekannt. Ich sacke zwar dann auch völlig weg, aber bei mir sind eben diese intensiven Phasen, diese Flowphasen, bei denen ich völlig im Schreiben aufgehe, nicht so lang. Für mich ist es mehr als genug, wenn ich am Tag vier Stunden schreibe, und das eher aufgeteilt auf zwei mal zwei Stunden. Ich bin dann schon auch immer ziemlich ausgelaugt und ausgepumpt, weil eben in diesen paar Stunden sehr viel passiert und ich sehr intensiv an der Sache dran bin, und das reicht dann auch.
Das heißt, die letzten ca. zehn Jahre journalistischen Arbeitens empfindest du für dein literarisches Schreiben in keinster Weise als hinderlich, sondern eher sogar als förderlich?
Popp: Für die Schreibpraxis ist es auf jeden Fall förderlich. Auch dass man funktionieren muss, weil man in einer oder in zwei Stunden auf Sendung geht, das heißt, das muss einfach passen. Und dieser Drang, dass man die Sachen so gut wie möglich aufs Papier knallt, habe ich sicherlich dadurch gelernt. Bevor ich so intensiv journalistisch gearbeitet habe, kannte ich dieses Prokrastinieren und das Warten auf den Musenkuss auch sehr gut – das hat mir die journalistische Praxis wirklich ausgetrieben.
Ich glaube auch an eine gewisse Schnelligkeit, die nichts mit Hast oder Hudelei zu tun hat. Ich glaube einfach an diese Intensität der Konzentration. Wenn man wirklich fokussiert ist, kann man in einer sehr kurzen Zeit sehr viel leisten und unterbringen, das man dann auch nicht noch einmal durchkauen muss. Außerdem wird ja sowieso jedes Manuskript noch etliche Male überarbeitet.
Zum anderen ist es dann aber, gerade wenn ich in so einer Schreibphase drin bin, sehr ärgerlich, wenn ich nicht zum Schreiben komme. Wie gesagt, wenn ich einen Arbeitstag habe und dann einen Beitrag über eine Ausstellung in der Albertina oder einen neuen Hollywood-Film geschrieben und aufgenommen und geschnitten hab, dann schreib ich nichts anderes mehr. Der Tag ist dann gegessen.
Und Schreibblockaden sind dir mittlerweile völlig fremd?
Popp: Das passiert relativ selten, ja. Beim letzten Buch hat’s das überhaupt nicht gegeben. Das war fast magisch, dass das so glatt geht, war mir selber neu. Diesen Flow hab ich vorher auch noch nicht gekannt.
Kannst du dir vorstellen, selber auch einmal zu verschwinden?
Popp: Ja. (lacht.) Jaja. Ich bin auch einer, der sehr gern allein auf Reisen geht und so, dass keiner sonst weiß, wo ich jetzt gerade bin. Also man weiß, wohin ich geflogen bin, aber mehr auch schon nicht. Ja, das Verschwinden ist auf jeden Fall etwas, von dem ich immer wieder träume. Wenn ich zu lange da war, träum’ ich vom Wegsein.
Hanna Biller lebt und arbeitet nach ihrem Studium der Germanistik und Slawistik in Wien. Sie liebt Sprache/n, schreibt, macht Radio und Musik und kann nie wirklich lange still sitzen.