Ö1-Wissenschaftsjournalistin Ulrike Schmitzer beschreibt in ihrem neuen Roman den Weg zum Mars – inklusive Lexikon der Astronautenfehler
Gibt es ein schöneres Wort als »Sternenstädtchen«? Es klingt wie aus einem Märchen oder wie aus einem romantischen Nachtgedicht, wo sich der Mond schon in die tiefblaue Stunde drängt und ein jedes Städtchen golden unter Sternen leuchtet. Die Wahrheit sieht nüchterner aus, zumindest ist das echte Sternenstädtchen ein hochtechnisierter Ort, an dem strenge Verhaltenscodes und wissenschaftliche Präzision herrschen. Zwanzig Kilometer nordöstlich von Moskau gelegen, werden dort seit den 1960er-Jahren KosmonautInnen auf ihre Reisen ins All vorbereitet. Es ist eine »Geschlossene Stadt«, man darf nur mit Passierschein hinein. Zu Zeiten der Sowjetunion war das Sternenstädtchen streng geheim und deshalb auf keiner Landkarte verzeichnet, heute ist es dem Verteidigungsministerium zugeordnet. Es leben über 6.000 Menschen dort, und es gibt eine ausgewachsene Infrastruktur mit Schulen und Supermärkten, sodass die AstronautInnen mit ihren Familien längerfristig dort leben können. Aber im Juri-Gagarin-Kosmonautentrainingszentrum sind auch eine Menge Einrichtungen zu finden, die es nirgends sonst gibt. Die Trainings finden zum Beispiel in einem gigantischen Wasserbecken statt, sodass Reparaturvorgänge in der Schwerelosigkeit geprobt werden können. Außerdem stehen im Sternenstädtchen Swjosdny Gorodok Nachbauten aller russischen Raumschiffe im Originalmaßstab – und die weltgrößte Zentrifuge, Baujahr 1980. Noch heute kreisen dort künftige Weltraumreisende mit 36 Umdrehungen pro Minute, mit ähnlicher Wucht also, wie man sie bei einem Raketenstart zu spüren bekommt, um zu sehen, ob sie den Anforderungen einer solchen Mission gewachsen sind. Eine enorme Belastungsprobe, nicht nur für den Körper.
Die Autorin und Wissenschaftsjournalistin Ulrike Schmitzer hat das Sternenstädtchen Swjosdny Gorodok besucht, als sie für einen Radiobeitrag recherchiert hat. Wer ihren Roman Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt gelesen hat, merkt sofort, dass es neben der literarischen auch eine wissenschaftliche Neugier ist, die sie zum Schreiben bewegt. Diese beiden Triebfedern für Ulrike Schmitzers Schaffen greifen ineinander und sind kaum voneinander zu trennen, vielmehr bedingen die Recherchen für ihre journalistischen Arbeiten oft genug die Themen, die sie auch in ihrer Prosa beschäftigen. So auch in ihrem aktuellen Roman: »Die Basis an Informationen ist aus der Recherche entstanden. Nicht so sehr die Fakten, sondern auch viel Atmosphärisches. So habe ich meine Puzzleteile zusammengefunden, und in der Fiktion hat sich all das verdichtet. Das Sternenstädtchen hat mich natürlich massiv beeindruckt, das ist in den Roman eingeflossen.«
Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt handelt von Kira, einer Biologin, die zu der ersten Siedlergemeinschaft auf dem Mars gehören will und sich darum aufs Gründlichste vermessen und bewerten, trainieren und studieren lässt. Der Weg ins All verlangt denen, die ihn antreten, unglaubliche Leistungen ab. Das erinnert vage an Senecas vorausschauenden Ausspruch: non est ad astra mollis e terris via – der Weg zu den Sternen ist unbequem. Milde ausgedrückt. Die Auserwählten gehören zu den am gründlichsten untersuchten Menschen überhaupt: körperlich belastbar, hochintelligent, psychisch stabil. Bei der Selektion gilt es, alle Unwägbarkeiten aus dem Weg zu räumen. Aber Menschen sind nie vollkommen berechenbar, und nicht jedes Risiko lässt sich kalkulieren. Wenn Kira gerade nicht an Studien teilnimmt oder im Labor mit Algen arbeitet, sammelt sie die Fehler, die AstronautInnen über die Jahre passiert sind. Was sie dabei zutage fördert, ist auf so bizarre Weise menschlich, dass sich niemand diese Fälle hätte ausdenken können: Kiras »Lexikon der Astronautenfehler« im Anhang des Buchs ist eine der vielen Schnittstellen zwischen Roman und Realität, die programmatisch für Ulrike Schmitzers gesamtes literarisches Werk stehen: »Ich versuche, Fakten und Fiktion auf unterschiedlichen Ebenen miteinander zu verknüpfen. Für das ›Lexikon der Astronautenfehler‹ war die Recherche viel mühsamer als gedacht. Ich habe unzählige Tagebücher von Astronauten durchforstet und natürlich auch aus den Interviews geschöpft, die ich selbst geführt habe. Diese Fehler werden immer nur in Nebensätzen erwähnt, es hat ja niemand ein Interesse daran, dass das alles publik wird. Noch dazu in dieser Fülle.« Da ist zum Beispiel Lisa Nowak, die »liebeskranke Irre«, wie es im Roman heißt, die die mangelnde Glaubwürdigkeit ihrer psychologischen Gutachten mit einer rasanten Racheaktion unter Beweis gestellt hat. Andere Zwischenfälle stellen eher die technologischen Kompetenzen der Beteiligten infrage: Alexej Leonow, der den ersten Außenbordeinsatz in der Geschichte der Raumfahrt absolviert hat, wäre danach fast nicht mehr durch die Luke ins Innere der Raumstation gekommen. Sein Raumanzug hatte sich im Vakuum aufgebläht, er musste in einer waghalsigen und ziemlich gefährlichen Improvisation selbst die Luft aus seinem Schutzanzug lassen, um wieder an Bord zu gelangen. Ein Szenario wie aus einem alptraumhaften Weltraumhorrorfilm – und ein besonders bildhaftes Beispiel dafür, dass Fehler im All nicht passieren dürfen und dennoch vorkommen. Nicht immer endet das so glimpflich wie bei Leonow. Kira hat auch ein paar Todesfälle in ihrer Sammlung.
Ulrike Schmitzer hat sich in ihrem Roman mit der Frage auseinandergesetzt, wie die perfekte Besatzung für den Flug zum Mars aussehen würde, und schnell festgestellt, dass vollkommene Unfehlbarkeit eine Illusion ist. »Und das ist irgendwie auch beruhigend. Aus Kiras Sicht ist das deshalb wichtig, weil sie sieht: Sie ist zwar nicht perfekt, aber die anderen sind es auch nicht. Es gibt niemanden, auf den man sich hundertprozentig verlassen könnte, auch nicht durch die strengsten Selektionsverfahren.«
Mit dieser schwierigen Auswahl muss sich auch die private Stiftung »Mars One« derzeit auseinandersetzen, und ihre Verfahren sind durchaus aufsehenerregend. Die Organisation hat angekündigt, die erste permanente Siedlung auf dem Roten Planeten gründen zu wollen. Die vierzig SiedlerInnen werden per öffentlichem Casting ausgewählt, und die Reise soll mithilfe eines »Big Brother« nicht unähnlichen Fernsehformats auf der Erde zum Spektakel für die Massen gemacht werden. Als die Arbeiten zu Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt begannen, hatte »Mars One« noch lange nicht von sich reden gemacht; dass ihr Roman also derart perfekt zum aktuellen Raumfahrtdiskurs passen würde, war für Ulrike Schmitzer nicht abzusehen. Nun ist die Menschheit beziehungsweise ihre Vorhut offenbar näher denn je daran, die legendäre Feststellung »We are the Martians«, wir sind die Marsianer, tatsächlich wahrzumachen. Der Autorin ist das Projekt jedoch spürbar suspekt, aus guten Gründen. »Viele Experten sagen, dass das eine reine Utopie ist. Das Geld reicht nicht aus, die notwendigen technischen Voraussetzungen sind noch nicht geschaffen. Es gibt im Grunde nichts außer der Idee. Es erstaunt mich total, dass sich 200.000 Menschen dafür beworben haben, es ist schließlich ein Todestrip. Der Ex-Astronaut und Raumfahrttechnik-Professor Ulrich Walter spricht von einer 30 %igen Wahrscheinlichkeit, lebend am Mars anzukommen. Die Chancen, dort auch nur eine gewisse Zeit lang zu überleben, sind noch viel geringer. Die größte Gefahr ist die Strahlung, der man beim Hinflug ausgesetzt ist. Und bis man am Mars schließlich eine Schutzbehausung aufgebaut hat, dauert es ja auch eine gewisse Zeit. Die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, ist riesig.«
Was Kira dazu bewegt, trotzdem auf den Mars reisen zu wollen, ist eine der interessantesten Fragen, die der Roman stellt. Die Möglichkeit einer Rückreise besteht in der Fiktion ebenso wenig wie in Wirklichkeit. Kiras Entscheidung steht jedoch fest, sie nimmt an Belastungsproben teil und bereitet sich darauf vor, die Erde zu verlassen, ohne jedoch zu wissen, ob sie jemals wirklich gemeinsam mit anderen auf dem Mars siedeln wird. Immer wieder wird deutlich, wie sehr Kira von der Idee eines neuen Gründungsmythos fasziniert ist: Der Mars ist schließlich die terra incognita unserer Zeit, unerforscht, gefährlich und reizvoll. In Wirklichkeit hat die Vorbereitung auf den großen Aufbruch ins All jedoch meist wenig von dem heroischen Glanz, den man mit solch großem Pioniergeist gemeinhin verbindet. Es weiß schließlich auch kaum jemand auf der Erde, wer sich gerade auf der Internationalen Raumstation befindet – wenn nicht gerade Astronauten wie der Kanadier Chris Hadfield einen YouTube-Hit landen.
Auch die Studien, an denen Kira teilnimmt, sind oft langwierig und nicht selten langweilig. Bei einer Bettruhestudie etwa geht es darum, drei Monate lang im Liegen auszuharren, um Schwerelosigkeit zu simulieren. Ulrike Schmitzer hat auch hier sehr gründlich recherchiert und ihre Informationen von Menschen bekommen, die genau wissen, wie sich so etwas anfühlt: »Ich habe mit Leuten gesprochen, die solche Bettruhestudien gemacht haben. Es nehmen viele Studenten teil, das sind normalerweise keine Astronauten. Diese Dinge gibt es wirklich, und die laufen auch momentan. Nicht mit dem Ziel der Marsbesiedelung, sondern um etwas über den Menschen im All zu erfahren, über das Verhalten des Körpers in der Schwerelosigkeit.« Wenn man das Ganze im Roman aus Kiras Sicht liest, wird einem erst bewusst, was drei Monate still liegen mit dem Körper und der Psyche machen. Permanent will sich der Körper aufrichten, permanent muss man ihn davon abhalten. Bis er irgendwann aufgibt. »Erst kommt der Schmerz in den Beinen, dann im Kreuz, dann schmerzen sogar die Haare, die ständig auf dem Polster aufliegen«, erinnert sich Kira. Anfangs hatte sie die Zeit zum Lesen nutzen wollen, die Klassiker, für die man sonst nie Zeit findet. Irgendwann nimmt sie die Bücher nur noch in die Hand, zum Lesen ist sie zu müde, zu gleichgültig. Aber sie zieht die Bettruhestudie durch. Es folgt ein Ausflug nach Swjosdny Gorodok, in die Zentrifuge, die Kira dreht und dreht, bis sie das Gefühl hat, es zieht ihr die Zähne aus dem Kiefer und die Gedärme aus dem Bauch, all das unter strenger Aufsicht von Oberst Irina. Das harmlos-hübsche Wort Sternenstädtchen entzaubert sich rasch im Angesicht der enormen Strapazen, die Kira dort erlebt. Wieder stellt man sich die Frage: Weshalb macht jemand bei so was mit? Warum geht Kira nicht einfach nach Hause, zurück ins Labor, zu ihren Algen, zu ihrem Notizbuch mit den Astronautenfehlern, irgendwohin, wo sie vor all dem wissenschaftlichen Fortschritt in Sicherheit ist?
Dass Kira nicht sehr an ihrem Zuhause festhält, wundert einen allerdings immer weniger, je mehr man über ihren Alltag erfährt. Sie hat weder Familie noch Sozialleben, und die Arbeit als Biologin liegt ihr zwar, aber sie scheint Kira nicht zu erfüllen. Ihrem Ehrgeiz, den Fortschritt der Menschheit mitzugestalten, werden wenige irdische Freuden entgegengesetzt. Ihr Leben, das macht sie selbst deutlich, hat ohnehin viel von einer Isolationsstudie – bis eine Begegnung nicht nur ihre Situation auf der Erde verändert, sondern sie auch dazu bringt, ihren Aufbruch zum Mars und die geheimnisvolle, auf fast bedrohliche Weise verschwiegene Institution, die sie dazu verpflichtet hat, zu hinterfragen. Kira trifft ihre Zwillingsschwester, die etwas exzentrische, einnehmende und liebenswerte Künstlerin Zoe. »Als Kira ihrer Zwillingsschwester begegnet, hätte der Roman leicht ins Unwirkliche kippen können, aber das wollte ich nicht«, sagt Ulrike Schmitzer. »Zwillinge sind natürlich auch aus wissenschaftlicher Sicht hochinteressant, im Hinblick auf Selektionsverfahren, weil in diesem Fall tatsächlich identisches genetisches Material vorliegt. Kira hat sehr ausgeprägte technische und mathematische Fähigkeiten, aber ihre Defizite sind im sozialen Bereich, anders als bei ihrer Schwester.« Zoe und Kira faszinieren einander; sie nähern sich an mit der Anziehungskraft zweier unterschiedlich gepolter Magnete, als vertraute Fremde, als schwesterliche Freundinnen. Plötzlich setzt eine ganz andere Art von Schwerkraft ein, die Kira auf der Erde zu halten droht.
Jana Volkmann ist Autorin und Co-Chefredakteurin des Literaturmagazins Buchkultur.
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