Zum 60. Todestag von Vicki Baum am 29. August 2020
Als uns die Literaturwissenschaftlerin Veronika Hofeneder vor ein paar Jahren vorschlug, einen Band mit Feuilletons von Vicki Baum herauszubringen, waren wir zunächst etwas skeptisch.
Eine Sammelung mit Feuilletons, liest das heute noch jemand? Kurze Zeit und einige Seiten Leseprobe später wussten wir, dass wir dieses Buch machen wollen. So zeitgemäß und dabei zeitlos, mit einem wachen Blick auf das Zeitgeschehen, auf Trends, Moden und Menschen und dabei keine Scheu, kritisch und vehement zu sein. Keine Frage, Vicki Baum beherrschte die kurze Form mit Eloquenz, Witz, (Selbst-)Ironie, sie verstand es, auf wenigen Seiten, Themen anzugehen, die unbequem waren, und konnte ebenso – wie in ihren berühmten Romanen – blendend unterhalten.
Der von Veronika Hofeneder herausgegebene Band »Makkaroni in der Dämmerung« umfasst zahlreiche Texte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und führt uns auch einen Teil von Vicki Baums Lebensgeschichte vor Augen – von Wien über Berlin bis nach Hollywood, wo sie nach ihrer Emigration aus Deutschland 1932 erfolgreich auf Englisch weiterschrieb. Am 29. August 2020 jährt sich Vicki Baums Todestag zum 60. Mal & wir werfen wieder mal einen Blick in ihre klugen, scharfsinnigen und humorvollen Feuilletons.
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Ein einfaches Butterbrot in der Sahara
(Die Dame, 1931)
»Ich möchte mit einem Kamel in die Wüste hinausreiten und draußen übernachten«, sagte ich zu meiner Hotelwirtin in Touggourt. – »Madame! Mit einem Kamel in die Wüste! Das ist unmöglich, Madame!« erwiderte die Wirtin mit allen Zeichen der Verstörung.
Touggourt – man muss es wissen – ist eine echte, lehmgebaute Wüstenstadt und liegt mitten in der Wüste.
Von Biskra aus, das auch schon in der Wüste liegt, fährt man mit dem niedlichen »train blanc«, je nach der Gunst des Wüstenwetters acht bis sechzehn Stunden nach Touggourt, immer durch Wüste, gelbe Dünen, zuweilen Heuschreckenwölkchen, südwärts. Der Sand der Sahara liegt in den Straßen Touggourts, die Fassaden seiner offiziellen Gebäude stehen zierlich den gelben Marktplätzen zugekehrt, aber ihre Rückseiten sehen direkt in die Wüste hinaus. Kamele lagern überall mit ihren Treibern, und alles und jedes Ding riecht nach Kamel. Ich hatte mir es eigentlich ganz einfach gedacht, eines dieser Kamele zu chartern und hinauszureiten. Aber es gab riesige Schwierigkeiten. Anfangs schienen sie unüberwindlich, aber im Lauf von stundenlangen Verhandlungen wurde es lichter. Es wurde mir klargemacht, was ich brauchte, um »comme dame« in die Wüste zu reiten, nämlich eine Karawane und einen Karawanenführer, den einzigen Führer Touggourts, den sein Mut und seine Kraft befähigten, eine solche Expedition zu leiten. Man schilderte mir erst die Gefahren, und hernach die Kosten. 600 Franken und ein Pourboire. Würde ich mich entschließen?
Ich entschloß mich.
Schon am nächsten Abend präsentierte sich mir der Chef der Karawane, ein neunzehnjähriger Araber. Er sah aus wie Valentino multipliziert mit Douglas Fairbanks, er nannte sich Mohammed, Sohn des Abi Kader Mustapha, er sprach ein nettes Französisch und gab sich den Anschein, als wäre er eigens von den höchsten Gipfeln des Atlas herbeigeeilt, um mir beizustehen. In weißem Haik und weißen Pluderhosen, mit den schönen roten arabischen Reitstiefeln und den seltsamen, handgeschmiedeten Sporen stand er vor mir, kühn und charmant, wie ein Filmstar und examinierte mich. Ob ich wüßte, daß vierzig Kilometer südlich schon die gefürchteten Tuaregs in der Wüste hausten? Ich wußte es. Ob ich in der Wüste zu Abend essen wollte? Ob kaltes oder warmes Essen? Ich bat, doch nur ja keine Umstände zu machen. Mohammed begann, die Expedition vorzubereiten; er klammerte sich finster an das Telefon in der Hotelhalle, ich hörte, wie er vierzig Flaschen Mineralwasser bestellte. Er machte einen aufgeregten, aber entschlossenen Eindruck, als ich ihn verließ. Am nächsten Tag schon wollte er bereit sein, mich in die Wüste zu bringen. Schön.
Am nächsten Tag um drei Uhr, die Stunde, da alles sich vor der Sonne verkriecht, ging es los. Wir kämen sonst zu spät zu einem sicheren Lagerplatz in der Wüste, wurde mir bedeutet. Gut, ich war, mit Leinenhosen und Tropenhut, bereit. Als ich vor das Hotel auf den kochenden Platz hinaustrat, machte es mir einigen Eindruck, zu sehen, was alles ich für meine hundert Mark gemietet hatte. Da waren also acht erwachsene Kamele und ein junges, das nur zum Vergnügen mitlief. Drei trugen Zelte, eines trug Wasser, eines Brennholz, eines Möbel (jawohl, Möbel!), eines Tragtaschen mit Proviant, eines trug mich. Mohammed ben Abi Kader Mustapha seinerseits hatte sich auf dem bezauberndsten, rosennüstrigen kleingebauten Araberhengstchen eingefunden, und sah hinreißend aus. Zu den neun Kamelen gehörten vier Erwachsene und acht Jungen. Als wir losritten, hatte ich den deutlichen Eindruck, zum Oberhaupt eines kompletten Beduinenstammes geworden zu sein.
Nach zwei Minuten waren wir aus der Stadt hinausgeschaukelt, dann ging es eine Viertelstunde lang an einer Palmenpflanzung vorbei, dann sah man noch eine Autospur in die Wüste hineinschneiden und sich verlaufen, dann trabte das Kamel über die erste Sanddüne, wiegend hinauf, stoßend hinunter – und dann war die Welt verschwunden, und alles nur hingewellte, leere, unsagbar stille Wüste. Ich war sehr glücklich. Es war mehr Romantik, als ich erwartet hatte, mehr Romantik, als man für 600 Franken und ein Pourboire beanspruchen konnte.
Aber ich vergaß, von Mabrouk zu erzählen. Mabrouk war mein Freund, ein bezauberndes Araberbürschchen, neun Jahre alt, klug, höflich, er hatte sich mir mit seinem sauberen Schulfranzösisch und allen seinen Kenntnissen für eine Woche angeschlossen als Dolmetsch, Führer und Stiefelputzer. Er sollte mitkommen in die Wüste, aber bei unserm Ausritt hatte er sich nicht eingefunden. Als wir jedoch etwa zwei Stunden geritten waren, hörte ich Rufe in der Stille, dann kam ein schwarzer Punkt sehr schnell durch das Gelbe heran, und als er nahe war, verdeutlichte er sich zu einem uralten Fahrrad, und auf der Lenkstange kauerte Mabrouk. Er gab keine Erklärungen ab, sondern ließ sich von seinem Gefährten die nächste halbe Stunde schweigsam neben meinem Kamel her durch den Sand trampeln. Es mochte unfreundlich sein, aber mir störte dieses Fahrrad die romantische Situation. Es gefiel mir nicht, dass ich mit neun Kamelen ausritt, wenn ein kleiner Bengel auf einem vorweltlichen Fahrrad uns mitten in der Wüste einholen konnte. Wir kamen an eine Tränke, ich schickte ihn samt Fahrrad zurück und ließ Mabrouk auf eines der Kamele zu den Beduinenkindern packen. Wir ritten und ritten, es ist eine verzauberte Sache, so durch die Wüste zu reiten, Mund und Nase voll Sand, aber so vollkommen ruhig und glücklich, wie man es in Europa nicht begreifen kann.
Kamelsättel sind wunderbar bequem, aber wenn man ein paar Stunden Dünen auf, Dünen ab geritten ist, wiegend den Paßgang hinauf, stoßenden Trab hinunter, bekommt man doch Reitschmerzen. Auch gab es rätselhafte kleine Episoden. Auf einer Düne stand schwarz in der langsam verschleiernden Luft ein Beduine und signalisierte mit den Armen. Etwa eine Stunde später trafen wir wieder auf die gleiche winkende Silhouette. In der Wüste sehen alle Dünen und alle Männer gleich aus, notierte ich in Gedanken. Auch gab es mitten in der Wüste – wir ritten schon über vier Stunden – eine rätselhafte Wellblechhütte, wie sie bei uns die Straßenreinigung aufbaut. Ganz allein und unerklärbar stand sie da, und es wurde schon dämmerig. Einmal kam es zu streitendem Geschrei zwischen Mohammed und einem der Treiber, dann preschte Mohammed davon in voller Karriere, wie ich nie einen Menschen reiten sah, er verschwand in der Wüste, unser Chef und Führer, und wir blieben allein. »Was ist los?« fragte ich Mabrouk. — »Er hat die Karbidlampe vergessen«, sagte Mabrouk einsilbig. (In Touggourt wird alles mit diesen scharfen Karbidlampen beleuchtet, es liegt schon außerhalb jener Kultur, die sich durch elektrische Beleuchtung dokumentiert.) Zehn Minuten später trommelte etwas durch die Wüste, und Mohammed war wieder da, das Pferd war naß, die Zügel blutig, es schnob blutigen Schaum bis auf seine Fesseln hinab. »Wir haben kein Licht mit?« fragte ich. Er gab keine Antwort. Wir ritten nur: fünf Stunden, sechs Stunden. Die Tragkamele waren uns vorangegangen, es dunkelte, wieder stand ein Beduine auf einer Düne, wieder sah er genau aus wie die vorigen, diesmal legte er die Hand an Stirn und Herz zum Gruß und führte mein Kamel in eine Senkung. Unten hatten sie großen Zauber gemacht, der Traum von Lagerzelt und Feuer wurde Wirklichkeit.
Ich übersah mein Gebiet. Ich war Herrin über vier Zelte, eine Herde von Kamelen – es waren noch ein paar dazugekommen – und eine ganze Dorfbevölkerung von Menschen, die aufbauten, absattelten, das Feuer bewachten, kochten, und alles in allem ungeheuer geschäftig waren. Zwei taten nichts als Teller wischen, einer goß Wasser aus den Behältern in Teekessel. Einer wurde mir als Koch präsentiert. Ich inspizierte die Zelte. In einem balgten sich Beduinenkinder. In einem stand Tisch und Stuhl. In dem dritten wurden eben ein Feldbett und ein Waschtisch aufgeschlagen. Das vierte war klein. Es enthielt, mit Verlaub zu sagen, das Klosett, vielmehr die Attrappe eines Klosetts. Ein hölzerner Sitz, mitten in die Wüste gestellt und von einem Zelt überdacht. Ich begriff, was es heißt, »comme dame« in die Wüste zu reiten.
Ob ich Tee wünschte, wurde ich gefragt. Ob ich im Zelt oder im Freien speisen wolle? Schon nach einer Dreiviertelstunde war der Tee fertig, der schwarze, süße, verteufelt scharfe und erfrischende Pfefferminztee der Araber. Man breitete einen Teppich in den Wüstensand und schleppte Stuhl und Tisch aus dem Zelt Nr. 2 – es war nur mitgekommen, falls ich drinnen hätte essen wollen. Man arbeitete, man kochte – vier Leute kochten schon seit mehr als einer Stunde mein Abendbrot. Ich wurde gebeten, noch ein wenig Geduld zu haben, ein wenig spazieren zu gehen. Ich ging spazieren, ich hatte steife Beine vom Sechs-Stundenritt, ich kehrte zum Lagerfeuer zurück. Die Kamele lagen mit gefesseltem Vorderbein und kauten geräuschvoll wieder, sie hatten sich indessen vollgefressen mit dem grünen Kraut, das die Araber Djnep nennen, und das in der Wüste wächst. Der Koch arbeitete im Feuerschein, Mohammed kommandierte, die Tellerwischer wischten Teller. Mabrouk lag neben dem jungen Kamel und schaute still mit dunklen Tieraugen in die seinen. Wie verzaubert die Welt war, wie fremd, wie unvorstellbar weit entfernt. Einer blies auf der kleinen Rohrflöte, die immergleichen fünf Töne aller arabischen Nächte … Man bat mich zeremoniell zum Abendessen. Man servierte mir mit Verbeugungen: zwei harte Eier, eine Dose Sardinen, ein Stück Brot. Man zögerte, man wartete, ich spürte es, ich wußte nicht auf was. Es war halb elf Uhr nachts geworden, tiefbesternte, abgrundstille Nacht mitten in der Wüste. Plötzlich tauchte eine Gestalt im Feuerschein auf, eine atemlose, winzige Gestalt, ein Araberkind, vielleicht sechs Jahre alt, den kleinen blauen Haik hochgeschürzt. Es überreichte dem Chef der Karawane, Mohammed ben Abi Kader Mustapha – er lag malerisch auf seinem Sattel hingebaut zu meinen Füßen, die Flinte neben sich – ein rätselhaftes Paket.
»Was ist das?« fragte ich meinen Freund Mabrouk.
»Das ist die Butter, Madame«, sagte Mabrouk höflich.
»Mein Gott, welche Butter, Mabrouk?«
»Sie wäre nicht frisch geblieben, wenn wir sie mitgenommen hätten«, sagte Mabrouk.
»Ist das Kind deshalb mitten bei Nacht mitten durch die Wüste gekommen?« fragte ich entsetzt und verständnislos.
»Es ist ja nur zehn Minuten von Touggourt hierher, Madame«, sagte Mabrouk, höflich und überlegen, wie er immer mit mir sprach.
Ich erhob mich und verließ meinen Hofstaat. Ich setzte mich still abseits, neben das kleine Zelt mit dem diskreten Zweck. Die Nacht war herrlich und der Himmel über mir nah und voll mit fremden Sternen. Ich hatte lahme Beine, Nase, Mund und Augen voll von feinstem Sand. Ich dachte lange nach. Aber ich habe es bis heute nicht begriffen, warum ich wie ein Idiot sechs Stunden lang rund um Touggourt Karussell reiten musste, um »comme dame« in der Wüste zu übernachten …