Hans Weigels Roman »Unvollendete Symphonie« ist die unsentimentale Aufarbeitung einer Beziehung zwischen zwei Menschen im Wien der schwierigen Nachkriegszeit, die geprägt ist von Emigration und Wiederkehr: ein literarisches Zeitdokument und eine Liebeserklärung an Wien.
Auszug aus dem Roman »Unvollendete Symphonie« von Hans Weigel (Wiener Literaturen Band 8)
Man saß viel beisammen in jenem dunklen und kalten Winter nach dem Krieg. Licht und Wärme schienen im Beisammensein vervielfacht. Es gab auch kaum andere Verbindungen zu den Menschen als: sie aufsuchen. So ging man, wenn man in der Nähe war, zu denen, die man kannte, in die Wohnung. Waren sie zu Hause, saßen wohl andere schon bei ihnen und holten sich Licht und Wärme. Das war eine unbekümmerte und sehr ursprüngliche Geselligkeit. Mir erschien sie damals als die wienerische Art der Geselligkeit; denn ich war erst im Herbst nach Wien gekommen. Was ich hier fand, kam mir nicht wie zu dieser Zeit, sondern wie zu dieser Stadt gehörend vor. Viel später erst merkte ich allmählich, wie die Zeit und die Stadt einander wandelten.
Wer ein Zimmer betritt und drin eine Anzahl von Menschen findet, meint, daß er eine Gesellschaft vor sich hat, und bringt sie in viel dichtere Beziehung zueinander, als es meist angemessen ist. So ging es mir, als ich in die große Stadt Wien, aus dem kleinen Bezirk meiner ersten Jugend kommend, kläglichen Einzug hielt. Die Zufälligkeiten erster Begegnungen schienen mir unwandelbare Gegebenheiten. Und so ist’s wohl auch dir gegangen, als du in dieses zufällige Zimmer gekommen bist, in dem inmitten von Zufälligkeiten zufällig auch ich gesessen bin.
Der Hausherr, einer meiner noch spärlichen Bekannten jener Tage, hatte eben auf einem großen Teller Brote aufgetischt, bestrichen mit einer Mischung, die uns erstaunlich wohlschmeckend vorkam, deren Hauptbestandteil für uns, auf ewig unvergeßbar, mit jenen Zeiten verbunden zu sein schien und von der ich heute kaum mehr weiß, daß sie »Nährhefe« hieß.
Es hat geläutet. Der Hausherr ging öffnen. Man hat jubelnde Schreie und Rufe einer stürmischen Begrüssung gehört. Dann ist er mit einem anderen Mann im Zimmer gestanden, noch ganz im Eindruck des Augenblicks und mit männlichem verhaltenem Ungeschick nach äußeren Mitteln zum Erweis von Liebe, Freude und Freundschaft suchend: Umarmen, Auf-die-Schulter-Klopfen, Händeschütteln.
»Das ist Peter Taussig«, hat er gesagt. »Er ist wieder da.«
Ich weiß genau, daß mir sofort aufgefallen ist, wie er nicht gesagt hat: »Er ist zurückgekommen«, sondern: »Er ist wieder da.«
Dann habe ich gedacht: Das ist der Augenblick, auf den ich zu warten angefangen habe, als ich ein kleines Mädchen war. Und der erst, für mich, die neue Zeit einleitet. Ich sehe zum erstenmal einen Juden.
Ich habe gewußt, daß der Mann, der da gestanden ist, ein Jude sein muß und keiner, der anderswoher zurückgekommen war: aus dem Krieg, aus der gewaltigen Wanderung, die Europa überzogen hat, aus einer Gefangenschaft. Von überallher sonst ist man zurückgekommen. Als Jude ist man wieder da gewesen.
Es ist nicht dein Name gewesen, der für mich zwar ungewohnt geklungen hat, doch nicht so, wie ich mir die Judennamen gedacht habe: Blumental, Veilchenfeld, Löwenstein, Wolfsohn, poetisch, romantisch und fremdhaft gerade in ihrer extremen, etwas schamlosen nackten Beziehung zu der Sprache derer, denen zuzugehören den Trägern verwehrt gewesen ist.
Auch nicht, wie du ausgesehen hast; denn du siehst nicht deutlich oder ganz eindeutig jüdisch aus, du wärst mir nie als ungewöhnlicher, andersartiger, exotischer Anblick aufgefallen.
[…]
Der Hausherr ist ein alter Freund von dir gewesen. Außer seiner Frau hast du keinen von uns gekannt. Ihr habt sofort zu reden angefangen, das große Gespräch jener Tage: Wo ist der, was ist aus jenem geworden, hörst du etwas von dem und von jenem? »Ich muß dir soviel erzählen«, hast du gesagt wie dein Freund, aber ihr habt nichts von dem erzählt, was gewesen ist, als ihr getrennt gewesen seid; und wer das, was er zu erzählen hat, nicht am ersten Tag erzählt, der erzählt’s nie. Ihr habt nur von der Gegenwart gesprochen, von den Menschen, euch gegenseitig vergewissert, wer noch lebt und wo; und dann seid ihr bald in eure gemeinsame Vergangenheit geraten und habt sie lachend und gerührt wieder gegenwärtig gemacht. Wir anderen sind stumm daneben gesessen und haben nicht viel anfangen können mit diesen ewigen fremden Namen und kleinen Anspielungen und Episoden. Aber um uns ist Licht und Wärme der Begegnung gewesen.
Und ich habe gewußt: Es fängt an. Was? Die Zeit fängt an, das Leben, mein Leben, auf das ich gewartet habe. Denn zuvor war alles Warten gewesen. Ich bin erst ein Teil der Welt geworden in jenem Augenblick, als »wieder da« gewesen ist, was für mich nie da gewesen war. Ich weiß gar nicht, was ihr gesprochen habt; aber ich bin an deinen Lippen und an deinen Worten gehangen, ganz ausgeliefert und hingewendet. Jetzt – habe ich gedacht – jetzt, jetzt! Und habe geschaut und gehorcht.
Und dann haben sie dich gefragt, warum du gekommen bist, was dir eingefallen ist, und einer sogar: »Sind Sie wahnsinnig?«
Und du hast gesagt, lachend und strahlend und glühend:
»Ich bin am Café Museum vorbeigegangen und hab’ durchs Fenster hineingeschaut, der Ober hat mich gesehen und hat gewinkt und mich sofort erkannt. Mein alter Friseur in der engen Margarethenstraße hat gesagt: Ah, der Herr Taussig ist wieder da. Die Karlskirche steht noch, im Josefstädter Theater geht der Luster in die Höhe. Am Karlsplatz ist die Türe in den Musikverein noch immer tagsüber zugesperrt, und man muß den Riesenumweg rund ums Haus in die Bösendorferstraße machen, um hineinzukommen, und dann erst noch durch den ganzen langen Gang gehen. Die Minoritenkirche, der Weinbergweg auf den Kobenzl, den man nie findet – aber ich hab’ ihn noch gewußt –, der Heldenplatz, die Alma Seidler, der Anton Edthofer, der Karl Skraup, die unvergleichlichen Philharmoniker, diese Bagage, Salmannsdorf … da muß man doch zurückkommen – ja, da wär’ unsereiner doch wahnsinnig, wenn er nicht herkäm’.« […]
Hans Weigel
Unvollendete Symphonie
Roman
Wiener Literaturen, Band 8
Hg. von Alexander Kluy
184 Seiten | 19,95 Euro
Nächste Veranstaltung am 28. Oktober 2015 um 19 Uhr in der Buchhandlung tiempo nuevo in Wien » Veranstaltung bei Facebook
Die Reihe WIENER LITERATUREN setzt sich zum Ziel, Literatur aus Wien, über Wien, von Wiener Autorinnen und Autoren, aber auch Blicke von außen auf die Stadt zu präsentieren.
In dieser Reihe erscheint Ungewöhnliches und Zeitenüberdauerndes: souverän eigensinnige Texte, die die Grenzen zwischen erzählender, feuilletonistischer und analytischer Prosa leichthändig ignorieren, dem gelebten Augenblick durch genaue Beobachtung Gehalt und Sinn, Witz und Leben verleihen – und urbane Eleganz.