Das besondere Merkmal des Clemens-Brentano-Preises, mit dem unser Autor Simon Sailer 2021 für seine Erzählung »Die Schrift« von der Stadt Heidelberg ausgezeichnet wurde, ist die Zusammensetzung der Jury: Sie ist mit professionellen Literaturkritiker*innen sowie Studierenden des Germanistischen Seminars der Universität Heidelberg besetzt. Die drei Studentinnen des Seminars Raquel Mahanjane, Lena-Sophie Müller und Yusheng Wang sprechen mit dem Preisträger über Literatur.
Sehr geehrter Herr Sailer, wir möchten Ihnen ganz herzlich zum diesjährigen Clemens-Brentano-Preis für Literatur gratulieren, den Sie für Ihre Novelle »Die Schrift« erhalten. Im Mittelpunkt der Erzählung steht der Ägyptologe Leo Buri, der von einer Schrift-Obsession erfasst ist und auf Abwege gerät. Was hat Sie an dieser Thematik gereizt?
Der Kern der Novelle ist die Idee einer Botschaft, die für einen selbst unverständlich ist, aber nicht für alle anderen. Dieses Motiv hat mich nicht mehr losgelassen. Vielleicht, weil es das – ziemlich verbreitete – Gefühl verkörpert, alle anderen wüssten Bescheid, nur man selbst versteht sich nicht und nicht die Welt.
Wie notwendig finden Sie Literaturpreise?
Im Englischen gibt es den Ausdruck »loaded question«. Eine Welt ohne Literaturpreise ist vorstellbar. Es ist allerdings so, dass sich mit dem Verkauf von Büchern, zumal literarisch ambitionierteren, schwer ein Lebensunterhalt bestreiten lässt, weshalb Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf Preise und Stipendien angewiesen sind, wenn sie nicht schon von vornherein genug Geld haben. Das verschärft sich natürlich noch, wenn – wie momentan – sämtliche Lesehonorare wegfallen. Außerdem sind Preisjurys, genauso wie die Literaturkritik, ein Teil des Resonanzraums von Literatur, den Texte bedürfen, um ein Eigenleben zu entwickeln.
An welchem Ort schreiben Sie am liebsten?
Am liebsten im Kaffeehaus (wie es sich für einen Wiener gehört). Aber zur Not tut es auch der Schreibtisch.
Wie lange haben Sie an der Novelle gearbeitet?
Die Novelle ist ja Teil einer Trilogie – der Essiggassen-Trilogie – und ich habe die Novellen unmittelbar hintereinander geschrieben. Dann lasse ich meine Manuskripte immer einige Zeit liegen, bis zu einem Jahr, bevor ich sie überarbeite. Vom ersten Entwurf bis zur Publikation sind an die drei Jahre vergangen. Allerdings habe ich parallel auch an anderen Texten gearbeitet.
Wie hat sich das Schreiben von »Die Schrift« von Ihrem anderen Werk »Menschenfisch« aus dem Jahr 2019 unterschieden?
Bei den Novellen hatte ich einen genaueren Plan. Ich wollte für mich wesentliche Gefühlslagen angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse gestalten: Ausgeliefert-Sein, die Herrschaft der Dinge über die Menschen, Ersetzbarkeit. Außerdem habe ich mir bei den Novellen einen »altmodischeren« Stil erlaubt. Sie sind blumiger als ich sonst schreibe, ziehen hier und da die kunstvollere der einfachen Formulierung vor. Sie sind wie die alte Literatur, die ich mag, die Novellen von Zweig oder Schnitzler oder die Erzählungen von Turgenjew, Gogol und Dostojewski. »Menschenfisch« ist sprachlich stärker an amerikanischer Literatur (Carver, Salinger) und an Kafka orientiert. Außerdem habe ich beim Schreiben von »Menschenfisch« viel an »Dune« von Frank Herbert gedacht.
Hatten Sie schon mal Schreibblockaden? Wenn ja, wie haben Sie diese gelöst?
So eine richtige Schreibblockade – also, dass ich sage: Ich will schreiben, aber es geht nicht – hatte ich noch nicht. Wenn ich aufwache und partout nicht an dem gegenwärtigen Projekt weiterschreiben will, schreibe ich einfach irgendetwas anderes. Ich habe ein Dokument für unsinnige Texte, da tippe ich dann etwas hinein. Manchmal kommen sogar ganz witzige Sachen dabei heraus.
Gibt es einen Charakter, der Sie schon seit langer Zeit verfolgt? Haben Sie schon eine Idee für Ihr nächstes Werk?
Es gibt schon ein nächstes Werk, ich muss es nur noch günstig unterbringen. Es vergeht ja immer viel Zeit, bis etwas publiziert wird, und ich höre in der Zwischenzeit nicht mit dem Schreiben auf.
Lesen Sie gerne zur Vergnügung oder ist es mehr Arbeit für Sie? Wenn ja, was lesen Sie besonders gerne?
Lesen ist für mich eines der größten Vergnügen. Natürlich achte ich als Schriftsteller vielleicht mehr als andere darauf, wie ein Text gemacht ist. Die englischsprachige Literatur mag ich sehr, Raymond Carver, J. D. Salinger, David Foster Wallace, Kazuo Ishiguro. Gerade lese ich allerdings die »Aufzeichnungen eines Psychopathen« von Wenedikt Jerofejew in deutscher Übersetzung.
Die Illustrationen von Jorghi Poll haben Ihr Buch von anderen hervorgehoben und ergänzen den Text hervorragend. Wie kamen Sie auf diese Idee und wie sah die Zusammenarbeit mit dem Illustrator aus?
Die Texte zu illustrieren war eine Idee des Verlags. Ich hätte mich das auch nicht vorzuschlagen getraut. So etwas ist ja doch eine ziemlich aufwändige Sache. Aber es hat mich natürlich extrem gefreut und war mit ein Grund, die Erzählungen bei Edition Atelier herauszubringen. Irgendwie passen diese mittellangen Texte und Illustrationen hervorragend zusammen, ich habe da im Hinterkopf zum Beispiel die von Alfred Kubin mit Feder illustrierten Novellen von Dostojewski. Ein bisschen Feedback habe ich Jorghi Poll schon gegeben, aber im Grunde hat er einfach sein Ding gemacht. Das finde ich auch richtig. Es ist ja viel interessanter zu sehen, was jemand anderem zu dem Text einfällt.
In welches Genre würden Sie »Die Schrift« einordnen?
Ich tue mir schwer mit Genres, eigentlich versuche ich, nicht in Genres zu denken.
In Ihrer Erzählung wird die Glaubwürdigkeit des Erzählers ständig in Frage gestellt. Er gibt nur die Erzählung seines Freundes Peters wieder, dessen Glaubwürdigkeit ebenfalls mehrmals in Zweifel gezogen wird. Wie viel Glaubwürdigkeit sollte der Leser dem Erzähler schenken?
Letztlich muss man ihm doch alles glauben. Der Erzähler ist zwar unverlässlich, aber nur, weil er selbst nicht alles weiß. Er ist aber sehr glaubwürdig in seinem Versuch, aus dem Vorhandenen die Wahrheit zu konstruieren. Er versucht gewissermaßen, hinter die Gerüchte zu sehen.
Welches Buch sollte Ihrer Meinung nach jeder einmal gelesen haben und wer sind Ihre literarischen Vorbilder?
Es klingt vielleicht ein bisschen forsch, aber jeder soll lesen, was er oder sie lesen will, sich von der Dynamik der eigenen Erfahrung und Lektüre leiten lassen. Literarische Vorbilder in dem Sinn, dass ich so schreiben will wie dieser Autor oder jene Autorin, gibt es nicht. Wenn mir eine Wendung oder ein literarisches Verfahren gefällt, bediene ich mich. Was es aber schon gibt, sind Autoren und Autorinnen, die mir gezeigt haben, was man machen kann ohne gleich »unten durch« zu sein: Thomas Bernhard mit seinen Tiraden und Wiederholungen, Franz Kafka und Samuel Beckett mit ihren langen, sich winden den Dialogen, Marlen Haushofer, bei der die Handlung fest steht, Raymond Carver und J. D. Salinger, bei denen das Eigentliche gar nicht beschrieben wird, nur das Rundherum.
Warum sollte man Ihr Buch gelesen haben?
Im besten Fall, weil man nicht anders kann.
Herr Sailer: Wir danken für das Gespräch