Mit dem Roman »Wer wir wären« ist Norbert Kröll eine tiefsinnige Geschichte gelungen, die Leserinnen und Leser auf eine poetische Sinnsuche führt. Wir haben mit dem Autor über »taumelnde« Charaktere, das Hadern mit Entscheidungen und das Ei als Metapher des Lebens gesprochen.
Was hat dich dazu angetrieben, ein Buch über das (Nicht-)Zurechtkommen mit dem Leben zu schreiben?
Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Eines Tages – ich hatte vor kurzem erfahren, dass ich Vater werde – saß ich im Kaffeehaus und wollte an der Fortsetzung von »Sanfter Asphalt« weiterschreiben, doch ich kam nicht mehr weiter. Irgendetwas, weiß der Teufel was, zwang mich dazu, auf der Stelle ein neues, unbeschriebenes Dokument zu öffnen und das »Fußball-Kunst-Knast-Kapitel« zu schreiben (Kapitel »Achtzehn«). Danach folgte ein Kapitel aufs andere. Damit ist die Frage des Antriebs leider nicht beantwortet. Aber wie beantwortet man eine Frage, auf die man keine Antwort weiß? Vielleicht, indem man einen Roman schreibt.
Die Figuren in deinem Roman haben teils sehr komplexe Wesenszüge. Wie sind die einzelnen Charaktere entstanden?
Die Figuren sind aus dem jeweiligen Kontext heraus entstanden. Zuallererst gab es Albert, und mit ihm gab es Klaus, seinen besten Freund. Eine Szene führte zur anderen, eine Figur zur nächsten. Die Figurenkonstellation verhält sich wie ein abstraktes Gemälde: Da sind Striche, die einen dicker oder fetter als die anderen, vielleicht auch bunter. Es sollte ein Gleichgewicht herrschen – auch wenn es schließlich aus den Fugen gerät. Die Komplexität ist ganz am Anfang ja noch simpel, aber mit jedem Wort verzweigen und verfeinern sich die Konturen, die Verästelungen nehmen zu, wo am Anfang bloß ein dicker Stamm gewesen ist. Die Figuren entstehen durch mühevolles Hinschauen, immer wieder, Tag für Tag.
Albert, der Hauptprotagonist in »Wer wir wären«, tritt als verletzliche, nachdenkliche Person auf. Seine Figur beleuchtest du aus verschiedenen Perspektiven. Welche Mittel verwendest du dafür?
Dass einzelne Kapitel in ihrer Form ausscheren, ist nicht als Fingerübung gedacht. Für mich als Schriftsteller war es notwendig, die Figur Albert aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Die Du-Form im Kapitel über den Autounfall (Kapitel »Elf«) war für das, was ich darstellen wollte, notwendig, vielleicht auch, um einen kleinen Abstand zwischen dem Protagonisten und dem, was er mit seiner Frau Elisabeth erlebt, zu bringen. Oder die unabgeschickten Briefe: Sie sind für Albert und Klaus eine Form, sich mitzuteilen, wenn sie sonst keinen (verbalen) Ausweg mehr sehen. Einzeln betrachtet ergeben diese Kapitel Punkte, zusammen bildet sich eine Form, die den Hauptprotagonisten darstellt, ohne ihn zu verraten.
Müsste ich Alberts Figur an einem Wort dingfest machen, so wäre es wohl ›taumelnd‹. Alberts taumelnder Wesenszug ist, was mich am meisten interessiert. Als Leserin oder Leser fragt man sich vielleicht, wird er stolpern? Und wenn er stolpert, wird er sich fangen?
Was interessiert dich selbst am meisten an der Figur von Albert?
Während des Schreibens habe ich nicht darüber nachgedacht, ob mich etwas an ihm interessiert. Er war eine Figur und ich habe ihn Wörter sprechen, Dinge tun und gehen lassen, wohin er musste, auch wenn er es nicht wollte. Auch nach dem Verfassen des Romans ist es schwer, diese Frage zu beantworten. Man könnte die Figur mit einem guten Freund vergleichen: Überlegt man sich, was man an ihm interessant findet, wenn man sich seit Jahren täglich sieht, gemeinsam viele schöne (und nicht so schöne) Sachen erlebt? Er ist da. Und er wird, auf die eine oder andere Art, bleiben.
Müsste ich Alberts Figur dennoch an einem Wort dingfest machen, so wäre es wohl »taumelnd«. Alberts taumelnder Wesenszug ist das, was mich am meisten an ihm interessiert. Als Leserin oder Leser fragt man sich vielleicht, wird er stolpern? Und wenn er stolpert, wird er sich fangen?
In deinem Roman geht es unter anderem um Entscheidungen, die man im Leben treffen muss. Was meinst du, warum fällt es vielen Menschen schwer, Entscheidungen zu treffen? Warum fällt es Albert so schwer?
Die Schwierigkeit, sich zu entscheiden, ist meiner Meinung nach bereits im Wort »Entscheidung« eingeschrieben. Eine Scheidung ist, wenn sich etwas trennt. Die Ent-Scheidung könnte demnach etwas Konsolidierendes sein. Zwei Möglichkeiten werden zu einer. Ganz einfach, indem man einen möglichen Weg abkappt, absägt, abhackt. So einfach ist es dann nicht. Aber wo vorher eine Scheidung war, ist nun eine »Ent-Scheidung«, eine Einbahn, und wenn schon keine Einbahn, dann eine Bahn, die mehr oder minder geradeaus führt.
Niemand hackt sich gerne eine Möglichkeit ab, sägt sich eine Straße weg. Und doch muss es früher oder später so sein, um weiter zu kommen, um nicht ewig an der Kreuzung stehen zu bleiben. Das sieht auch Albert, spät aber doch, ein. Und es fällt ihm schwer, weil er … fast hätte ich gesagt, »weil er ein Mensch ist« … Nun ja, ein Mensch aus Buchstaben kann nicht leben, und doch hoffe ich, dass Albert, auch wenn er »nur« eine Romanfigur ist, menschelt.
Die Metapher des Eis gestaltet nicht nur das Buchcover, sondern zieht sich durch den gesamten Text. Kannst du ein paar Worte dazu sagen, ohne zu viel vorwegzunehmen?
Über das Ei als Metapher des Lebens wurde bereits viel geschrieben und nachgedacht. Um auf die Analogie eines abstrakten Malers oder einer Malerin zurückzukommen: Was würde er, was würde sie darauf antworten, wenn man diese Person fragte, warum sie jenen Strich oder jenen Punkt gemacht hatte, warum diese Farbe ausgewählt und nicht jene? Schon möglich, dass es Leute gibt, die im Nachhinein darauf eine Antwort parat haben. Ich gehöre nicht dazu.
Das Ei ist ein Ei ist ein Ei. Man kann es aufschlagen, kochen, essen. Man kann darüber schreiben. Man kann es nicht aufschlagen und es ausbrüten und ein Küken daraus schlüpfen lassen, das später ein Ei legt, das man wiederum essen kann. Oder auch nicht. Es ist Leben. Es ist Tod. Es ist Nahrung. Es ist Kot. Das reimt sich, macht aber nichts.