Die Autorinnen Eva Schörkhuber und Elena Messner diskutieren während des Schreibens ihrer Romane häufig miteinander – wir haben eines ihrer poetologischen Gespräche aufgezeichnet
Wir sitzen an der Küstenstraße in Marseille und schauen uns den Sonnenuntergang an. Wir wollen uns über die Rückseiten unsere Romane Das lange Echo und Quecksilbertage unterhalten, im Hinblick auf Erzähltechniken, Intertexte, Anspielungen – darüber, was Spuren in unseren Texten hinterlassen hat, und Ideen, die uns beim Schreiben geprägt haben. Es geht in unseren Romanen um den Handlungsspielraum von Protagonistinnen, der durch ihre Beschäftigung mit historischen Themen bis in die Gegenwart erweitert werden soll. Im Roman Das lange Echo ist es die Figur der jungen Militärhistorikerin Vida, die in der Gegenwart ihre Dissertation als Familiengeschichte angelegt hat und wegen ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg in Konflikt mit ihrer Vorgesetzen Doris, der Direktorin des Heeresgeschichtlichen Museums, gerät. Das, was Vida wissenschaftlich aufarbeitet, wird auf der zweiten Ebene anhand der Figur des Offiziers Milan Nemec aufgerollt, der 1918 im belagerten Belgrad stationiert ist. Im Roman Quecksilbertage ist es die junge Juristin Valerie, die sich in einem suspekten »Institut für die nachhaltige Kommunikation mit der Zivilgesellschaft« von ihren Vorgesetzen ausbeuten lässt, bis sie dieses Institut, ihre Arbeit, aber auch die Geschichte ihres Landes infrage stellt. Der erste Impuls kommt auch bei ihr aus dem Arbeitskontext, die Frage nach dem 8. Mai, mit dem sie über »Communiqués« ihres Institutes konfrontiert wird, und schließlich: Was haben die Menschen aus meiner Familie im Zweiten Weltkrieg, der mit dem 8. Mai in Europa beendet wurde, eigentlich gemacht? Valerie beginnt, diese Fragen daran zu knüpfen, was das mit ihrem Leben heute zu tun hat. In beiden Romanen ist Geschriebenes und Gelesenes zentral für die Entwicklung der Figuren und der Handlung.
KOMMUNIKATIONSVERSUCHE
M: Ich möchte gerne über deinen Umgang mit den Sprachmasken sprechen, den montierten und bestimmte Verhältnisse oder Diskursführungen ausstellenden Materialien: In den Quecksilbertagen gibt es dieses »Institut für die nachhaltige Kommunikation mit der Zivilgesellschaft«, eine äußerst absurde Institution.
S: Das »Institut für die nachhaltige Kommunikation mit der Zivilgesellschaft« ist, finde ich, eine ziemlich realistische Anspielung auf diese ganzen kleinen PR-, Beratungs- und Schießmichtot-Firmen, die in den letzten zehn Jahren aus allen Ecken und Enden geschossen sind und seltsame Trainings und Beratungsdienstleistungen anbieten für eine Gesellschaft, in der es immer mehr sogenannte Blasenjobs gibt. Das ist eine Arbeitsgesellschaft – und wir wissen das seit Ende der 1960er-Jahre –, der die Arbeit ausgeht, und das einzige, was als gesellschaftliche Reaktion auf breiter Ebene wirklich wahrnehmbar wird, ist, dass wir unzählige absurde Dienstleistungsjobs produzieren. Diese Art von Arbeitsbeschaffung, das ist einmal das eine. Und das andere ist »die nachhaltige Kommunikation mit der Zivilgesellschaft« – Zivilgesellschaft, das ist schon immer die Frage von Protestmöglichkeiten gegen die bestehende politische Ordnung – und auch das ist ein riesiger Markt geworden. Und dann auch diese Kommunikationstrainings, in denen es vor allem darum geht, wie man sich besser verkaufen kann – das ist alles Bestandteil dieser Blase, die auch eine Blase der Job- und Arbeitsbeschaffung ist in unserer Dienstleistungsgesellschaft. Die Programme dieser Kommunikationstrainings, die dieses Institut in den Quecksilbertagen anbietet, sind alles andere als erfunden – dieser Text, den es da gibt, der ist, so absurd er auch erscheinen mag, montiert aus den Programmen tatsächlich angebotener Trainings …
M: Und Valerie wird aktiv, sie tut und verändert etwas, nämlich den Aussendungstext des »Institutes für die nachhaltige Kommunikation mit der Zivilgesellschaft«.
S: Valerie nimmt im Grunde nur ganz kleine Veränderungen vor: Sie liest diese Aussendung Korrektur und beschließt, den Text zu hacken. Sie schreibt ihn aber nicht um, sondern ändert einfach ein wenig die Orthografie, fügt da und dort ein Wort oder ein paar Buchstaben hinzu, wodurch absurde Formulierungen, die in dem Text schon angelegt sind, wirklich sichtbar werden – das zählt zu den Techniken der Kommunikationsguerilla. Es gibt ein Handbuch – das ist übrigens auch eine Art Intertext –, das Handbuch der Kommunikationsguerrilla, in dem werden diese Techniken und Taktiken beschrieben. Das funktioniert so ähnlich wie die Demontage der Sprachmasken, es ist nicht eine auktoriale Instanz, die demontiert, sondern bestimmte und als selbstverständlich betrachtete Kommunikationsstrategien werden gleichsam gehackt, in einen anderen, leicht veränderten Kontext gestellt und dadurch sichtbar gemacht. Auch für die anderen Aktionen in den Quecksilbertagen gibt es jeweils konkrete Vorbilder: Sie wurden zwar etwas überspitzt und sozusagen literarisiert, aber sie basieren alle auf Techniken und Taktiken der Kommunikationsguerilla. Einige Male z. B. kommt etwas vor, das nennt sich Überaffirmation: Da geht es darum, dass bestehende Verhältnisse, die als selbstverständlich hingenommen werden, so weit zugespitzt werden, dass die Pointe bricht, zersplittert und augenfällig wird dadurch. Ein Beispiel dafür ist die Szene vor dem Haus der Industrie – die von der Arbeit buchstäblich bis auf die Knochen ausgebeuteten Menschen, die anstelle der Bäuche Uhren haben und während ihres Aufmarsches vor sich hinbeten: »Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut«. Dieser Slogan ist natürlich keineswegs erfunden, sondern war vor einigen Jahren ein Slogan der Wirtschaftskammer Österreich. Es gibt auch Verschränkungen von mehrere Taktiken und Techniken – z. B. das »Gras, das über die Sache wächst« zitiert einerseits die Praxis des Guerilla Gardening, andererseits eben auch eine Form der Überaffirmation.
STIMMENECHOS
S: Plaudern wir doch über Das lange Echo und beginnen mit dem Titel. Stimmen, die Echos der Stimmen sind titelgebend. Milan Nemec hat die Stimmen im Kopf und wird sie erst in den letzten Atemzügen anderen zu Gehör bringen. Diese Stimmen werden immer lauter, und sie markieren einerseits die Wendepunkte, an denen er sich doch entschließt, zu handeln. Andererseits sind die Stimmen auch die Echos dessen, was vergangen ist. Sie bilden die Echoräume, die Echokammern, in denen Dinge hörbar werden, die verdrängt, vergessen, eigentlich zum Schweigen gebracht hätten werden sollen. Aspekte des Großen Krieges, die keine offiziellen Fürsprechenden haben, die nicht repräsentiert, sondern verschluckt werden von einer gewissen Art von Geschichtsschreibung.
M: Ja, das stimmt. Ich möchte dazu auch etwas Handwerkliches sagen, nämlich wie ich auf die Echos gekommen bin. Sie sind Teil eines Volksglaubens. Es gibt zwei sehr unterschiedliche Versionen von Volksglauben, die in meinem Roman zitiert werden. Das eine ist der Glaube, dass Menschen wiederauferstehen, Untote, die wiederkehren, wenn sich also das Verdrängte wirklich manifestiert und zurückkommt. Die andere Art des Volksglaubens ist, dass Geister und Schattenwesen existieren, die flüstern und Echos produzieren. Beide Vorstellungen habe ich in meinem Roman teilweise gegeneinander ausgespielt. Dass die Echos dominieren, hat damit zu tun, dass sie auf der Handlungsebene optimaler einsetzbar waren, um das Verdrängte und das Verdrängen darzustellen. Beides sind Resultate meiner Beschäftigung mit Volksglauben, speziell im balkanischen Raum. Dass das Echo dann auch noch im Titel gelandet ist, hat den Grund, den du kurz erwähnt hast, dass es alltagssprachlich heute auch so verwendet wird, dass Ereignisse ein Echo haben, im Sinne der Erinnerung daran. Und in den Echos manifestiert sich die zweite große Handlungs- und Verhandlungsebene – das Innere, die private Auswertung von Dingen, die individuelle Erinnerung im Vergleich zu dem offiziellen, öffentlichen Erinnern. Bei mir waren die Echos eine schöne Klammer, um diese Ebenen zusammenzubringen.
S: Ich möchte zwei Dinge nachfragen. Einerseits ist das materialisierte Verdrängte ja richtig greifbar – die Vampire oder Untoten können bekämpft und gefangen werden. Und auf der anderen Seite gibt es Stimmen, Echos, die sind körperlos und können kaum in unserer »rationalen« Welt bekämpft werden, außer mit schweren Psychopharmaka. Die Frage wäre nun: Was ist bedrohlicher? Und zweitens: Die Echos, die in deinem Roman historische Ereignisse begleiten, haben ja ganz konkrete Stimmen bekommen, zeitgenössische Stimmen, die den Nachhall, dieses Echo, verhandeln.
M: Im Hinblick auf die Echos, die körperlos sind, die ich in Köpfe oder Stimmen der Figuren hineinversetzt habe, bleibt bis zum Schluss unklar: Ist es nur eine dissoziative Störung, die Milan Nemec hat, weil er so schwer traumatisiert ist von den Kriegsereignissen, oder hört er Stimmen, die tatsächlich existieren. Die Echos, die ich zitiere, das, was sie erzählen, sind historische Quellen. Das ist nichts Geisterhaftes, das ich erfunden habe, das sind Fakten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schwere Verstöße gegen das damalige Kriegsrecht, die heute noch zumeist verschwiegene Ermordung von Zivilpersonen durch Habsburger Truppen und die Verhandlung all dieser Dinge in der zeitgenössischen Militärgeschichte. Weil du die Frage nach dem Bedrohlicheren gestellt hast: Jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt hat, wird am Ende verstehen, dass das eigentlich Unheimliche viel weniger geisterhaft ist, sondern die Tatsache, dass das Dinge sind, die Menschen wirklich getan haben, dass das Unheimlichste nicht in mystischen Sphären eines Volksglaubens zu finden ist, sondern darin, was Menschen fähig sind zu tun.
S: Was sind das für Materialien, die als Stimmen und Echos in Milan Nemec’ Kopf gewandert sind?
M: Ich habe lange überlegt, dem Langen Echo eine Bibliografie anzuhängen. Ich habe mich aber bewusst – auch bei der zweiten Auflage – dagegen entschieden, weil ich möchte, dass die Lesenden selber nachforschen. Das ist eine direkte Aufforderung zur Aktivität der Lesenden, dass sie sich denken »Okay, das hat mich dermaßen irritiert, ich möchte wissen, was da tatsächlich passiert ist.« Und es ist nicht schwierig, nach der Lektüre kurz zu recherchieren, was da tatsächlich passiert ist. Das heißt, diesen letzten Akt des Vergewisserns, den wollte ich beim Publikum lassen. Die Bibliografie habe ich natürlich in meinem Computer, und ich kann jederzeit die Faktenlage offenlegen, sollte jemand aus politischen Gründen etwas in Zweifel ziehen oder leugnen wollen. Die Faktenlage, auf die ich mich beziehe, ist von deutschen, österreichischen und Schweizer Historikern erarbeitet worden. Die Gespräche zwischen Vida und Doris, der jungen Wissenschaftlerin und der Direktorin des Heeresgeschichtlichen Museums, basieren sehr stark auf dem, was in zeitgenössischen wehrwissenschaftlichen Texten zu lesen ist. Und auch das, was der etwas mysteriös bleibende Besucher, mit dem Milan Nemec in Belgrad 1918 in Konflikt gerät, sagt, ist diesen heutigen Texten entnommen. Ich hätte es mir noch leichter machen können, wenn ich die damals zeitgenössischen, heute historischen Quellen zitiert hätte, was ich absichtlich vermieden habe. Also: Ich habe die allerdümmsten Dinge nicht zitiert, weil es mir zu plakativ war. Ich habe die im 21. Jahrhundert verfassten Quellen verwendet, die ein wenig subtiler sind, fast wie gereinigt. Was ich so auffällig finde: Hinter dieser heutigen Version, die in den aktuellen wehrwissenschaftlichen Auseinandersetzungen hochgehalten wird, versteckt sich exakt das Gleiche. Das fand ich besonders spannend, und deswegen habe ich es auch der Figur des Besuchers vor hundert Jahren in den Mund gelegt, um zu zeigen, dass es in der heutigen Argumentation einiger Historiker und Wehrwissenschaftler die gleichen Argumentationslinien gibt.
ZWISCHENTÖNE
M: In den Quecksilbertagen sehe ich viele Kapitelüberschriften wie »Scherenschnitte«, »Fahrradklingel«, »Nebelhorn«. Offensichtlich spielen deine Titel mit Wahrnehmungsfragen, in diesem Fall mit dem Hören. Und dann gibt es so etwas wie die »Glasglocke« – Jemandem, der gerne und viel liest, wird dazu einiges einfallen.
S: Ja, zunächst einmal sollen die Zwischentitel Geräuschassoziationen hervorrufen: Jedes Kapitel hat seinen bestimmten Klang, seine bestimmte Klangfarbe bekommen, und der Titel ist jeweils ein Ausdruck davon. Es gibt immer wieder Überraschungsmomente, in denen mit Tönen ebenso gespielt wird wie mit Worten oder eben intertextuellen Verweisen. Die »Glasglocke« ist insofern eine heikle Angelegenheit, da der Klang in diesem Kapitel vordergründig sein soll – also der Ton, der zu hören ist, wenn gegen Glaswände, die Menschen voneinander trennen und einen unmittelbaren Kontakt unterbinden, geschlagen wird. Und in diesem Kapitel ist dieses Klopfen gegen Glaswände und auch eines gegen Glasaugen. »Glasglocke« ist außerdem ein Zitat des Titels der deutschen Übersetzung von Sylvia Plaths The Bell Jar und eine klare intertextuelle Markierung. Es wird auch ein Bild aus diesem Roman explizit zitiert: Das Bild von dem Feigenbaum, das bei der Erzählerin das beklemmende Gefühl hervorruft, sie könne sich nicht entscheiden – sie sitzt in einem Feigenbaum und hat alle schönen, verheißungsvollen Möglichkeiten in Form dieser Feigenfrüchte (man beachte den Namen der Frucht) über ihrem Kopf baumeln, sie kann sich aber nicht entscheiden, irgendwohin zu greifen, verzweifelt daran und bleibt daher bewegungslos sitzen. Und das ist ein klares, schon poetisierendes, aber gleichzeitig sehr griffiges Bild für die Depression, an der die Figur bei Sylvia Plath leidet. Die intertextuelle Markierung soll eher eine Spur sein als eine Fährte: Valerie, die Figur in den Quecksilbertagen, hat sonst wenig mit der Erzählerin in The Bell Jar zu tun, gleichzeitig wird in diesem Kapitel der Quecksilbertage aber auch diese Unentschlossenheit verhandelt – sowohl im Hinblick auf Karriere und Beruf als auch im Hinblick auf zwischenmenschliche Beziehungen: Es geht in diesem Kapitel u. a. um eine Liebesbeziehung, die Valerie seit Jahren lebt und die hauptsächlich von Kontaktlosigkeit geprägt ist. So bekommt die Figur der Valerie eine weitere Dimension: Es gibt diese Erzählerin in The Bell Jar, die auf der einen Seite eine freche junge Frau ist, die wirklich interessante und aufmerksame Beobachtungen der Welt anstellt, und die auf der anderen Seite schwer an Depressionen erkrankt. Valerie leidet nicht dezidiert an einer Depression – sie verhandelt schon deswegen mehr mit sich und der Welt. Das ist z. B. eine Dimension, wo ich mich freuen würde, wenn diese Frage auftauchen würde: Kommt sie etwas weiter als die Figur bei Plath? Kann sie mehr handeln und verhandeln?
M: Wenn die Valerie ihren Handlungsspielraum erweitert, dann bedient sie sich auch bestimmter musikalischer Artefakte, sie spielt mit Liedern oder erinnert sich an Lieder, die du ja offensichtlich auch eingebaut hast, als Lenkung entweder für sie oder für die Lesenden …
S: Was mir bei den Liedern wichtig ist, sind zwei Dinge. Auf der einen Seite ist es eine weitere sinnliche Dimension der Figur: Es gibt Lieder, die wieder auftauchen in ihren Träumen, die kurz anzitiert werden in Gedankenströmen der Valerie, Lieder also, die sie offenkundig irgendwann einmal gehört hat, die sie vielleicht nicht bewusst abrufen kann, die ihr aber in dem Moment plötzlich wieder in den Kopf springen – wie dieser Satz, den sie in der Straßenbahn gehört hat. Und da werden Ebenen bespielt, die weiter sind als die rationale Ebene. Das ist die eine Funktion der Musik, diese Art von Sinnlichkeit, mit der sich ein bestimmter Rhythmus in den Kopf schraubt, der dann die entsprechende Textzeile evoziert und in die Gedankenströme einfließen lässt. Auf der anderen Seite sind es die Stadtlieder, die mir wichtig sind: Da geht es darum, dass Musik und ein gemeinsames Liedgut wichtige Bestandteile der Repertoires von allen Widerstandsbewegungen sind, die es auf dieser Welt, auf allen Kontinenten immer und immer wieder gegeben hat und weiterhin gibt. Lieder zu singen auf der Straße, das beansprucht einfach Raum, und die Stadtlieder sind so gedacht, dass sie mit konkreten Räumen, mit konkreten sozialen Phänomenen und Fragen in der Stadt Wien arbeiten. Drei der Stadtlieder sind Umdichtungen von real existierenden Liedern, und die anderen Stadtlieder sind ein Versuch, diese Art und Weise, sich konkret an einem Ort mit bestimmten Architekturen – der Stadt, der Erinnerung, sozialer Umstände – auseinanderzusetzen, ein Versuch also, auch so etwas zu schreiben.
M: Mir ist beim Lesen aufgefallen, dass du oft über diese Lieder einerseits in das Innere der Figur zurückgehst, und dass es sie andererseits auch nach außen trägt. Das Nach-außen-Gehen sehe ich auch als einen politisierenden Akt, als einen Akt des Heraustretens, oder ein Bewusstwerden der Umwelt. Dieser, sagen wir, politisierende Aspekt der Lieder, der spiegelt sich, wenn auch weniger stark, ebenso in anderen Materialien, die du eingebaut hast.
S: Beim Schreiben der Figur war mir immer klar, dass Valerie eine Entwicklung macht, dass sie mehrere Schreckensmomente hat, die sie aufrütteln. Es gibt kein Initialmoment, auf das alles zurückgeführt werden kann, das war mir auch sehr wichtig. Schritt für Schritt bemerkt sie, dass ihr Handlungsspielraum entgegen aller Versprechungen und Verheißungen viel kleiner ist und ihr einfach nicht reicht. So eine Entwicklung einer Figur zu schreiben und dabei ausschließlich auf die Figur zu fokussieren bzw. immer nur vorwegzunehmen, wie diese Figur die von außen auf sie zukommenden oder an sie herangetragenen Dinge gelesen haben wird – das habe ich nicht in Betracht gezogen und deshalb viel Material von außen genommen. Und je mehr Material von außen dezidiert und explizit zitiert Eingang gefunden hat in den Text, umso mehr Reibungsfläche und Konfrontationsraum hat es gegeben zwischen dem Material und der Figur. Ein Beispiel dafür sind die Briefe, die sich Valerie und Kathrin geschrieben haben: Valerie war sieben- oder achtjährig auf Jugoslawienurlaub und hat dort eine Gleichaltrige aus der DDR kennengelernt. Die beiden haben sich jahrelang geschrieben. Valerie hat sich als Erwachsene daran erinnert, dass es diese Briefe gab. Aber diese Erinnerung ist auch von außen evoziert worden durch einen Satz, den sie in der Straßenbahn gehört hat. Und ihre Erinnerung, das ist die eine Sache, das ist ein kleiner Schritt, um an die Grenzen ihres so eng abgesteckten Handlungsspielraumes zu stoßen. Später wird sie diese Briefe noch einmal lesen. Diese Briefe sind konkretes Material von außen, Archivmaterial, wörtlich übernommen bzw. leicht arrangiert. Ich finde, dass diese Materialien von außen der Figur noch einmal mehr Möglichkeiten geben, irgendwo anzustoßen und anzuecken, sie hat noch nicht alles gefressen oder geschluckt, assimiliert oder interpretiert, sondern hier eröffnen sich weitere Spannungsfelder. Diese Briefe stammen aus einer Sammlung von Texten, die Kinder im Alter zwischen acht und fünfzehn Jahren kurz vor dem Mauerfall geschrieben haben, das sind Dokumente, Schriftdokumente, Tagebuch-Einträge, Briefe etc., die gesammelt wurden und nun zur Verfügung stehen.
M: Abgesehen von den Briefen, gibt es noch anderes ähnlich montiertes Material in deinem Roman?
S: Da gibt es zum Beispiel noch ein Gespräch, das Valerie mit ihrem »Onkel«, einem alten Freund der Familie, führt. Die Möglichkeit, über die eigene Familiengeschichte nachzudenken und schließlich ihre Verwandten auch zu befragen, taucht Schritt für Schritt bei Valerie auf. Es gibt Sätze, die wiederholt werden und die an mehreren Stellen jeweils eigene Kontexte haben, es gibt Fotografien, die eine Rolle spielen, Gespräche mit ihren Eltern, mit ihrer Großtante – und gegen Ende beschließt sie dann, diesen Onkel zu befragen. Die Materialien, die ich zu Auszügen aus diesem Gespräch montiert habe, kommen von langen Gesprächen, die ich vor einigen Jahren für ein anderes Projekt geführt habe mit einem Menschen, der genau sein Jahrgang ist.
LEIHGABEN
M: Wir haben ja auch einige sehr gut versteckte Zitate und Anspielungen in unseren Romanen hinterlassen – die besonders gut versteckten Zitate, die sind eine große Verneigung …
S: Was die Intertexte und Zitate in den Quecksilbertagen betrifft, haben wir bereits über die Glasglocke gesprochen. Ich habe außerdem in einem Kapitel auf der Plot-Ebene mehrere Geschichten hineinmontiert, u. a. Der Fall Franza von Ingeborg Bachmann. Das habe ich so zitiert, dass Leute, die das Romanfragment gelesen haben, das sofort erkennen. Dabei geht es um die Art von Gewalt, die einer Ehefrau, die für ihren Ehemann, einen berühmten Psychiater, arbeitet, angetan wird: Sie tritt nie in Erscheinung, macht aber all die Arbeit für die Koryphäe, ihren Mann. Das ist inhaltlich zitiert im Verhältnis zu Valerie, die als voll ausgebildete Juristin ein unbezahltes Praktikum in einer Kanzlei macht, die einen dem Fall Franza sehr ähnlichen Fall übernimmt. Dann habe ich Hannas Hintern, eine Kurzgeschichte von dir, an zwei Stellen inhaltlich zitiert. Und die Doris, die haben wir voneinander geliehen. Wir hatten ja eine kurze zeitliche Überschneidung der gemeinsamen Schreibarbeit. In der Zeit haben wir uns viel ausgetauscht, wir sind auf Gemeinsamkeiten bei Gedankengängen oder Figuren unserer Romane gekommen und haben festgestellt, dass es einer inneren Logik folgen würde, zwei Doris-Figuren in unseren Romanen zu verschränken, auch wenn sie nicht identisch sind – es sind ja verschiedene Romane. Bei mir ist es Doris, eine Freundin der Hauptfigur Valerie, die am Beginn ihres beruflichen »Hocharbeitens« steht, die ein Praktikum im Heeresgeschichtlichen Museum macht, und bei dir eben die Direktorin-des-Heeresgeschichtlichen-Museums-Doris, die sich bereits hochgearbeitet hat. Beide Figuren stellen eine bestimmte Art des Denkens und den Lebensweg einer an die Macht strebenden Frau aus. Da gibt es Sätze in unseren Roman, die ganz subtil auf den Roman der anderen verweisen. Gut versteckt.
M: Stimmt. Das hat mit unseren langen Diskussionen zu tun. Solche versteckten Sätze gibt es bei mir häufig. Gut versteckt habe ich zum Beispiel einen Satz von Ivo Andrić, den ich nicht dezidiert ausgewiesen habe, der aber so oft wiederholt wird, dass er dadurch deutlich markiert ist. Es gibt von Andrić einen Roman, in dem ein kroatischer Offizier, der im Ersten Weltkrieg in Sarajevo stationiert ist, bei einer serbischen Frau einquartiert wird. Diese Situation des Offiziers, der irgendwo einquartiert wird, kommt recht häufig in der Literatur vor, es geht darum, handlungstechnisch einen Kontakt des Militärs mit der Zivilbevölkerung zu ermöglichen. Bei Ivo Andrić ist es insofern interessant aufgelöst, als diese serbische Figur unsympathisch ist, da sie eine geizige und opportunistische Person ist, die mit den Habsburgern sympathisiert. Der kroatische Habsburger Offizier ist die entgegengesetzte Figur – er erzählt dieser Frau ständig, dass die Habsburger den Krieg verlieren sollen, damit sie endlich ihren südslawischen Staat gemeinsam gründen können. Und da gibt es diesen Satz, den der kroatische Offizier an einer Stelle sagt. Diesen Satz habe ich fast wortwörtlich übernommen. Durch den häufigen Einsatz soll es den Lesenden überlassen bleiben: Wenn sie sich mit zentralen Texten aus dieser Zeit beschäftigen, werden sie auf diesen Satz stoßen, der Roman ist ein sehr bekannter Text. Das ist etwas, das ich »gestohlen« habe. Andererseits hat mir Miroslav Krleža mehrere Folien geliefert für Das lange Echo. Teilweise sind einige Passagen klassische Reécrituren seiner Texte, die er über den Ersten Weltkrieg verfasst hat. Vor allem in der satirischen Darstellung der Doris kommen viele Dinge vor, die mit Texten von Krleža spielen. Und es gibt einen ganz konkreten Text, der wiederum viel mit der jungen Vida Nemec zu tun hat – eine wichtige Antikriegsnovelle, eine Militär-Groteske, von Krleža: Baracke 5B. Bei der Lektüre dieses Textes ist die Basis-Idee für die Vida mitentstanden. Da geht es um einen jungen kroatischen Studenten, der für die Habsburger in den Krieg geschickt wird und lange nicht begreift, was mit ihm passiert, so lange, bis er eben verwundet in dieser Baracke landet, die von einem arroganten und feigen Militärarzt geleitet wird: Es ist klar, dass er bald sterben wird, und der Militärarzt repräsentiert die Macht, die ihn in diesem Krieg missbraucht hat. Kurz bevor der Student stirbt, gibt es einen Moment der Auflehnung. Da versteht er, was ihm passiert ist, er hat einen starken Bewusstseinsmoment, er lehnt sich auf und möchte noch etwas tun, stirbt aber. Bei Krleža ist es recht typisch, dass diese Auflehnungsmomente tragisch enden, auch aus den Erfahrungen seiner Zeit heraus. Für Das lange Echo aber wollte ich, dass Vida diesen Auflehnungsmoment länger ausleben kann. Im Endeffekt bleibt es offen, ob ihr Aufbegehren Sinn hat oder nicht. Und diese Verbindung zwischen den beiden habe ich, finde ich, relativ stark markiert, nämlich über den Namen – der Student heißt Vidulić und meine Figur Vida, die Verbindung ist nicht nur, dass es ähnlich klingt, sondern im Serbokroatischen heißt vid die Sicht, Sehen, auch in Verbindung mit Licht, Klarsicht, hin zur Aufklärung und dem Durchblick usw., und das alles ist Vida Nemec sehr stark eingeschrieben. Das sind zwei literarische Leihgaben für die beiden Figuren, Milan Nemec und Vida Nemec. Es gibt noch mehr davon in meinem Roman.
S: Es gibt formal etwas, das ich mir abgeschaut habe, eine Technik: Diese verdichteten Passagen in den Quecksilbertagen, diese Samples, in denen atmosphärisch alle Dinge versammelt werden, die mit bestimmten Farben zu tun haben oder mit der Arbeit der Figur, oder mit ihrer Scham, die sind aus einer der ersten Fassungen hinauskopiert und ganz verdichtet wiedergegegeben. Das habe ich entdeckt als Roman-Technik bei Aleksandar Tišma in Der Gebrauch des Menschen. Das hat für mich beim Lesen dieses Textes so gut funktioniert, dass ich es sehr gerne ausprobieren wollte, einfach um diese Art von atmosphärischer Verdichtung zustande zu bringen. Es ist so, dass, da es in der Erzählung ja weitergeht, diese Verdichtungen auch die Funktion von Vor- und Rückblenden haben, da häufig Dinge vorkommen, die nicht sofort in den laufenden Erzählstrang eingebettet werden können. Durch diese Verdichtungen wird alles in ein etwas anderes Licht getaucht, ohne dass ich auf lange epische Beschreibungen zurückgreifen müsste.
M: Bei mir wäre da vielleicht der satirische Tonfall zu nennen, der mir bei Krleža so gut gefallen hat, weil er einerseits so eine extreme Distanzierung den Figuren gegenüber aufbaut und die Lesenden andererseits so nahe an die Figuren und ihre Kernprobleme herankommen lässt. Auch im Langen Echo hätte ich es gern, dass der ironische Tonfall näher zu den Figuren hinführt und dabei Dinge zu sagen erlaubt, die im ersten Moment eben ironisch klingen mögen, die aber sehr nahe an der Figur sind und genuin zu ihr gehören. Da ist eine Art ständiger Inspiration vorhanden, was Krleža betrifft. Und ich habe Karl Kraus gelesen zu dem Zeitpunkt, das war aber eher recherchemäßig, da ich auch Texte aus dem deutschsprachigen Raum über diese Zeit lesen wollte. Bei Karl Kraus ist es wie bei Krleža, sie haben einen ähnlichen ironischen Tonfall, wenn sie ans Eingemachte gehen, den ich sehr stark und sympathisch finde, und den ich für sehr aufdeckerisch halte.
S: Doris hat einen speziellen Tonfall: zunächst einmal in der Art und Weise wie sie spricht, aber auch im Hinblick darauf, was sie sagt. Das ist sehr spezifisch und macht die Figur – ja, richtig scharf, auf mehreren Ebenen. Bei Karl Kraus geht es ja um die »letzten Tage der Menschheit«, diese Satire funktioniert v. a. darüber, dass er Tonfälle so gut trifft und sie ein bisschen übersteigert, im Endeffekt sind es Sprachmasken, die ausgestellt werden.
M: Außerdem sind in dem, was Doris sagt, Auszüge, die wortwörtlich übernommen wurden aus den militärhistorischen Texten. Das ist etwas, das ich faszinierend finde: Ich habe es nicht einmal überspitzt, ich habe es nur auseinandermontiert und in einen etwas anderen Kontext gestellt. Kraus hat auch oft nur Material übernommen aus Zeitungen und montiert. So eine ähnliche Taktik wollte ich auch anwenden, weil mein Kernthema ja diese militärhistorische Auseinandersetzung war: Insofern sind es wirklich nur Zitatcollagen, die aber, anders montiert, fast schon surreal wirken, und wo man gar nicht glauben möchte, dass das wirklich jemand so geschrieben hat – im 21. Jahrhundert.
NICHT NUR IM EIGENEN KOPF
S: Damit einher geht noch so eine Frage: Wollen wir entschlüsselt werden? Die intertextuellen Verweise auf die Literatur sind ja teilweise hochspeziell, teilweise auch breit gestreut, und also manchen eher zugänglich oder vertraut als anderen.
M: Ich gehe nicht davon aus, dass die Verweise immer erkannt werden. Wovon ich aber ausgehe, ist, dass Wiederholung und unsere gesetzten »Signale«auffallen und irritieren. Im Grunde ist es also egal, ob es ein belesenes Publikum ist, wichtig ist, dass etwas in Gang gesetzt wird.
Elena Messner, geb. 1983 in Klagenfurt, lebt und arbeitet derzeit als Autorin, Redakteurin, Literaturkritikerin und Lehrbeauftragte in Marseille.
Eva Schörkhuber, geb. 1982 in St. Pölten, lebt und arbeitet derzeit als Autorin, Dramaturgin, Lehrbeauftragte, Lektorin und Redakteurin in Wien.
Messner und Schörkhuber sind Mitbegründer der Kulturplattform textfeld südost und veranstalten regelmäßig die Wiener Soundspaziergänge.