von Izy Kusche
Den tief und so unglaublich niedlich schlafenden Kleinen auf dem Schoß im Krankenhaus, die großzügig ausgebauten Dachterrassen mit abendlich warm ausgeleuchteten Wohnzimmern gegenüber: über der dunklen Straße wie eckige Retro-Planeten. Ein weites Karomuster gardinenverhangener Deckenlampentrabanten tieferer Etagen vom Backsteinbau daneben. Davor dürre Straßenlaternen wie verlorene Vektoren in einem Neonschatten noch vom Wirtschaftswunder.
Ab jetzt gilt es, bürgerliche Fassaden nicht bloß einfach so zu beschreiben, sondern sich ganz neu dazwischen zu bewegen, mit jemandem, dem das alles noch nicht kodiert erscheint …
Für alles Neue bleibt ’ne alte Weisheit übrig. Wahnsinn. Die Zeit. Vergeht. Wie … Wie ist es noch mal vorher gewesen? Eine Woche zu Hause, G. hütet das Bett und erholt sich davon, wovon man nur Eingeweihten gegenüber spricht. Willkommen in der Loge der Weisheitsdarwinisten: Die Labien sind nach der Geburt porös wie eine Pusteblume und ähnlich schwer von Fäden zusammenzuhalten, die Nähte und die Schwellungen schmerzen, pochend, drängend, quellend …
Für mich bedeutet das Haushalt, also Verschlafanzugisierung und fortschreitender Jogginghosismus – wenn ich nicht mit der Versorgungsperipherie beschäftigt bin, in Super- und Drogeriemärkten unterwegs. Alles wird zu einem System: Einkaufen, Müll-Rausbringen, Abwaschen etc., die banalsten Handlungen ergeben jetzt Sinn, weil sie dazu dienen, den Betrieb rund um H. aufrechtzuerhalten.
Dekodierungen, Umkodierungen, Neukodierungen, neue Dekodierungen etc. ist gerade mal zwischendurch möglich, wie jetzt im Stehen in der Küche (einhändig mit dem Laptop neben der Espressomaschine …), der Kleine zeigt sich (kein Wunder bei den Eltern …) sehr wählerisch Beschäftigungsangeboten gegenüber, eigentlich will er ausschließlich getragen werden – am liebsten im Gehen, maximal Stehen ›geht‹ noch, so wie jetzt in einem Tragetuch. Liegesysteme wie Stubenwagen etc. fallen aus bzw. klappen bloß, wenn bereits im Tiefschlaf … Und so puzzelt man sich durch den Tag und schaut, was so passt und was nicht …
Und noch ein kurzer Kode: die letzte Nachricht aus der Elternzeit. G. stillt, und gleich müssen wir zur Frauenärztin, Kontrolluntersuchung, und dann endet schon der erste Abschnitt, danach geht’s weiter zum Geldverdienen. Gestern noch zum Ausklang: ein Ausflug nach Glückstadt. Matjestage.
Erst mal.
Es ist wirklich so, ich weiß auch gar nicht, wie oft ich das in der letzten Zeit schon gesagt oder zumindest gedacht habe, weil es laut dahergeredet ja tatsächlich etwas Floskelhaftes hat, aber die Zeit vergeht derzeit wie im Fluge … Wobei die Metapher an sich kaum mit dem Gemeinten übereinstimmt, da die Geschwindigkeit in der Luft am Maßstab der Zeit beurteilt wird, die man am Boden benötigen würde, als gäbe es ein ›echtes‹ Tempo, wo man natürlich auch schon nicht weiß: zu Fuß oder mit dem Auto … Mit H. vergeht die Zeit ja nicht deshalb so schnell, weil ich sie anders erleben könnte, sondern weil so viel passiert. Vielleicht ist das aber auch nur eine Frage der Wahrnehmung … Was wiederum tatsächlich an Flüge, an interkontinentale zumal, denken lassen kann, ist der Jetlag! Müdigkeit bleibt ein Dauerthema. Heute Abend ist H. früh eingeschlafen, und ich nutze die Restenergie des Tages. Wenn was nicht zwischen Stoffwechselprozesse und Schlafphasen passt, dann fliegt einem glatt die Zeit weg …
Ein Freund war neulich zu Besuch und meinte, ein Kind zu bekommen, sei das einzig Richtige, was man im Leben machen könne. Die Dimension des Scheiterns von Lebensentwürfen erhalte jedenfalls eine fatale Tragweite.
Aber, wie man so schön sagt: Was ist schon richtig und was falsch. Gerade reden sowieso alle irgendwie nur von Straßen und Absperrungen: Wie komm ich durch die Stadt, wenn Gipfeltreffen ist? Abgesehen von jenem Freund. Der will gar nicht durch, sondern nimmt sich Urlaub, um zu demonstrieren.
H. ist nun 7 ½ Wochen (dass in einer Altersangabe gleich zwei Filmzitate stecken, wird wohl leider bald vorbei sein …). Und so langsam stellt sich ein Bewusstsein dafür ein, einen neuen Lebensabschnitt begonnen zu haben, einhergehend mit einer gewissen Normalität, d.h. ich reflektiere die Euphorie, also freue mich nicht mehr bloß in ›reiner Unbestimmtheit‹, sondern ich weiß vielleicht auch um die Erfahrung der Freude als Gefühl – Elternglück, Elternsorge etc. – ganz ›konkret‹ … = der Unterschied zwischen ›Sein‹ und ›Dasein‹ als Eltern? Oder so? Bräsig? Bagatellig? Boogie? … Oftmals bleibt es ein bloßes Staunen, dass H. jetzt tatsächlich auf dieser hellblau-weißgepunkteten Decke liegt, mit seinen wulstigen Ärmchen in dem niedlichen hellen Wickelbody und den prallen Beinchen in seiner maritimen blauen Anker-Hose in alle Richtungen strampelt und fasziniert auf die Stoffwolken in lila, grün und gelb über ihm am Spielbogen starrt. Seit kurzem kann er mit seinen Augen schon richtig fokussieren. Und manchmal kommt es mir seltsam vor, wenn ich H. so beobachte, dann bleiben floskelhaft rhetorische Fragen, wie die Zeit vergehe, wie schnell er sich entwickele, oder bloße Feststellungen, dass sich alles ändere, man zu nichts mehr komme, die nun mit eigenem Erleben, vielmehr Beschreibungen, lediglich aufgeladen werden.
Wenn man das so aufzählt, klingt es irgendwie ziemlich banal. Vielleicht hätte ich das vorher auch nicht verstehen können, was für ein Glücksgefühl es ist, abends einzuschlafen, nachdem ich mit H. auf der Schulter durch die Wohnung gelaufen bin, etwas Haushalt erledigt habe, arbeiten gewesen bin und sogar ein paar Zeilen mehr ›kodiert‹ …
Izy Kusche lebt und arbeitet als Autor in Hamburg. In der Edition Atelier sind seine Bücher Und dann lynch‹ ich deinen Hummer – Das Affenalbum und Kassiber erschienen.