Schon in den 1950er-Jahren hatte Ilsa Barea begonnen, an einer Kulturgeschichte Wiens zu arbeiten, die schließlich 1966 unter dem Titel »Vienna: Legend and Reality« in England erschien und immensen Erfolg hatte. Zwei Jahre später kamen dänische und spanische Übersetzungen heraus. Ihre Pläne, das Buch auch in einer eigenen deutschen Übersetzung zu publizieren, konnte sie leider nicht mehr umsetzen. Jetzt, fast fünzig Jahre nach ihrem Tod, erscheint dieses Fundstück erstmals auf Deutsch.
Georg Pichler, Professor für Deutsche Sprache und Literatur sowie Herausgeber des Spanienromans »Telefónica« von Ilsa Barea, gestaltet in seinem Nachwort einen tiefen Einblick in das Leben der Schriftstellerin.
Ein Auszug aus dem Nachwort
»Ist, wie ich glaube, Helmut Qualtingers Monolog Herr Karl das beste (vielleicht etwas unfreundliche) Porträt der Wiener, wie sie wirklich sind, so bietet Miss Bareas Buch die überzeugendste Erklärung, die ich je gelesen habe, wie sie so geworden sind. Übrigens würden die Leser nie vermuten, dass Englisch nicht Miss Bareas Muttersprache ist.« Am 18. Dezember 1966 veröffentlichte The Observer in seiner Wochenendbeilage Kurzrezensionen von englischsprachigen Autorinnen und Autoren, die Auskunft gaben über ihre drei Books of the Year. W. H. Auden, der ab 1957 viele Sommer im niederösterreichischen Kirchstetten verbrachte, nannte neben den Übersetzungen von Konrad Lorenz’ Das sogenannte Böse und Friedrich Heers Europa – Mutter der Revolutionen das kurz zuvor erschienene Buch Vienna. Legend and Reality von Ilsa Barea, die damals, 64-jährig und Witwe zweier Ehemänner, vieles war, jedoch keine Miss.
Um Ilse Pollak, Ilse Kulcsar, Ilsa Barea, Ilsa oder Ilse Barea-Kulcsar, wie sie sich in ihren verschiedenen Lebensabschnitten nannte, ranken sich seit den 1930er Jahren zahlreiche Geschichten und Gerüchte, die sie meist als beeindruckende, intelligente, umfassend gebildete Person mit großem theoretischen und praktischen Wissen darstellen, aber auch als politisch unzuverlässig, als Trotzkistin ebenso wie als linientreue Stalinistin. Wer war sie also wirklich?
Familiengeschichte
Ilse Wilhelmine Elfriede Pollak wurde am 20. September 1902 in Wien geboren, in eine Familie, die für die damalige Zeit zwar nicht typisch, aber bezeichnend war. Ihr Vater Valentin Pollak (1871–1948) war jüdischer Abstammung, überzeugter Sozialdemokrat und als fortschrittlicher Pädagoge bekannt. Sein Leben beschrieb er in seinen Erinnerungen als einen »weite[n] Weg vom Rande des Ghettos zum betitelten Staatspensionisten«. Tatsächlich stammten all seine Vorfahren aus »zwei altberühmte[n] Judengemeinden«, Eisenstadt und Mattersdorf, dem heutigen Mattersburg im Burgenland. Pollaks Großvater väterlicherseits war Weinhändler, dreimal verheiratet, hatte aus allen Ehen mehrere Kinder und übersiedelte nach Wiener Neustadt, wo er die Weinhandlung »Valentin Pollak und Soehne« eröffnete. Mütterlicherseits stammte die Familie Bauer aus Mattersdorf, war aber nach Wien gezogen, wo sie Handel betrieb. Vor allem seine Großmutter blieb Valentin Pollak in Erinnerung, eine »kleine Frau […], sehr beleibt und wenig beweglich«, die eine »nicht weiter erklärbare Kunst [besaß], um sich her eine Gemeinschaft zu bilden«, und zudem ihren jüdischen Glauben streng, aber ohne jede Intoleranz lebte. Aus ihrer Wohnung in der Leopoldstadt zog die Familie mit ihrem umfangreichen Nachwuchs in ein Haus in der Wickenburggasse, in dem Valentin seine Kindheit und Jugend verbrachte.
Zwischen seinen Eltern »klafften Gegensätze«, sowohl physisch als auch geistig. Die Mutter Gabriele war noch keine 18, als sie vermählt wurde und zu ihrem zehn Jahre älteren Mann nach Wiener Neustadt ziehen musste. Nach drei Jahren kehrte die Familie nach Wien zurück, wo der Vater das Weingeschäft weiterführte, ehe er an der Börse zu spekulieren begann und »sein Vermögen und die Mitgift meiner Mutter bis auf den letzten Heller« einbüßte, was zu einer für die damalige Zeit skandalösen Scheidung führte. Valentin Pollaks Groll auf seinen Vater war so groß, dass er dessen Namen in seinen Erinnerungen kein einziges Mal erwähnt. Die Großeltern mütterlicherseits ermöglichten dem jungen Mann ein Studium, er promovierte »1895 zum Doktor der Philosophie« und legte drei Jahre später die »Lehramtsprüfung aus Deutsch, Geschichte und Geographie« ab. Daraufhin begann er eine Karriere als Mittelschullehrer, setzte sich für das Volksbildungswesen ein und wurde schließlich von 1920 bis zu seiner Pensionierung 1928 Direktor des angesehenen Wiener Wasa-Gymnasium. Religionen stand er skeptisch gegenüber. Früh war er zum evangelischen Glauben übergetreten, nach seiner Pensionierung legte er jedes Glaubensbekenntnis ab.
1901 heiratete er Alice von Zieglmayer (1872–1948). Sie kam aus einer wohlhabenden konservativen Familie, die dem niedrigen Adel angehörte. Der Vater von Alice, Gustav Zieglmayer-Hamman von Hollenfeld, »ein stattlicher Mann von vornehmem Gehaben«, hatte die viel jüngere Wilhelmine Schifkorn geheiratet und war als »Kaiserlicher Rat« Leiter des Bürgerversorgungshauses im 9. Wiener Gemeindebezirk. Für seine Leistungen wurde er mit dem »goldenen Verdienstkreuz mit der Krone und dem goldenen Verdienstkreuz des taxfreien Bürgerrechts der Stadt Wien gewürdigt«. In 15 Jahren bekam das Ehepaar sechs Töchter. Alice war die älteste und erhielt wie ihre Schwestern eine standesgemäße Ausbildung: Sie wurden von Gouvernanten erzogen und von ausgesuchten Privatlehrern unterrichtet, an geraden Tagen wurde Englisch, an ungeraden Französisch gesprochen. Der Vater starb 67-jährig im Jahr 1902, die Mutter mit nur 51 Jahren 1904. Während Alice den freisinnigen Juden Valentin Pollak ehelichte, heiratete ihre Schwester Helene den christlichsozialen Politiker Johann Schober, der in den 1920er Jahren dreimal für kurze Zeit Bundeskanzler wurde und im Ruf eines konservativen Despoten stand, der mit eiserner Hand jede revolutionäre Regung unterdrückte. Als Polizeipräsident war er verantwortlich für den Tod von 85 unbewaffneten Arbeitern, die am 15. Juli 1927 an einer Demonstration teilgenommen hatten, in deren Folge der Wiener Justizpalast in Flammen aufging. In den Erinnerungen setzte sich Valentin Pollak ausführlich mit seinem, ihm nicht nur politisch äußerst unsympathischen Schwager auseinander, den er zu den »Totengräbern Österreichs« zählte, und ließ, so gemäßigt er sonst war, seiner Abneigung freien Lauf: »Ich hasse ihn auch heute noch, wo er lange tot ist, und werde ihn immer hassen.«
Dieser Familienmelange entspross Ilse Pollak als ältestes von drei Kindern. 1905 wurden ihr Bruder Willi, 1910 ihre Schwester Lotte geboren. Sie besuchte die Schwarzwaldschule in Wien. Gegründet von Eugenie Schwarzwald, »Pionierin der Frauenbildung und einer kindergerechten Pädagogik«, war die Schule, an der zwischen 1903 und 1933 auch Valentin Pollak unterrichtete,15 für ihre reformpädagogischen Ansätze bekannt und ermöglichte jungen Frauen den Mittelschulabschluss und somit auch das Anrecht auf ein Universitätsstudium. Zu den Lehrern gehörten Arnold Schönberg, Adolf Loos oder Oskar Kokoschka, bezeichnend war aber »der besondere Geist dieser Schule«, verkörpert in Genia Schwarzwald, der es gelang, »eine nicht unbedeutende Anzahl nicht jüdischer Zöglinge zu gewinnen«, was sich, so Valentin Pollak, zu jener Zeit »gar nicht von selbst verstand«. Angeregt von den Reformideen der Schule, aber auch von der »Denkrichtung« ihres Vaters, wandte sich Ilse früh der Politik zu – trotz ihrer bürgerlichen Abstammung einer konsequent linken, auf die Arbeiterschaft zentrierten Politik.
Vienna. Legend and Reality
Vienna. Legend and Reality ist eine persönliche Auseinandersetzung Ilsa Barea-Kulcsars mit Wien, nicht nur ein kulturhistorischer Aufriss der Stadtgeschichte, sondern auch eine immer wieder mit autobiografischen Anekdoten durchsetzte Suche nach einer Erklärung ihrer Herkunft, geschrieben für ein englischsprachiges Publikum, dem viele österreichische Kulturcharakteristika mit Erklärungen, Vergleichen und Entsprechungen aus dem anglophonen Kontext nahegebracht werden mussten. Nach dem allgemeinen Desinteresse an Telefónica, ihrem Roman über den Spanischen Bürgerkrieg, den im Kalten Krieg kein Verlag in sein Programm aufnehmen wollte und der zu ihren Lebzeiten einzig im Frühjahr 1949 in Fortsetzungen in der Wiener Arbeiter-Zeitung veröffentlicht wurde, steckte die Autorin ihre ganze schriftstellerische Energie in die Arbeit an dem Wien-Buch. […]
»Zur Leseprobe von Wien. Legende und Wirklichkeit
Ilsa Barea
Wien. Legende und Wirklichkeit
Hg. Julia Brandstätter und Gernot Trausmuth