»Martina Wied verhandelt in Das Krähennest die großen Themen des Exils: Wurzellosigkeit und Identitätskrisen, Überlebensstrategien und Verhaltensoptionen, den Verlust alter Freunde und die Oberflächlichkeit der Beziehungen am neuen Lebensort«, schreibt Herausgeberin Evelyne Polt-Heinzl in ihrem aufschlussreichen Nachwort zur kürzlich erschienenen Neuausgabe. Sie gestaltet darin einen Blick hinter die Kulissen.
Ein Auszug:
Plädoyer für Martina Wied und ihren großen Exilroman Das Krähennest
Wer sich mit der Literatur der 1950er-Jahre beschäftigt, landet zwangsweise bei den ›Vorgeschichten‹ in der NS-Zeit. Im historischen Abstand geht es dabei nicht um posthume Schuldzuweisungen, sondern um die tiefgreifenden Langzeitfolgen für unser gesamtes Bild der Zweiten Republik. Bereits im April 1948 rehabilitierte das österreichische Parlament etwa 90 Prozent der 530.000 registrierten NationalsozialistInnen. Auch im Literaturbetrieb kehrten bald viele jener AkteurInnen, die 1945 von den Alliierten aus ihren Ämtern entfernt, mitunter auch mit Schreibverbot belegt worden waren, in ihre alten Funktionen zurück. Das ergab effektive Netzwerke, die an Exilliteratur ebenso wenig interessiert waren wie an literarischen Auseinandersetzungen mit der NS-Diktatur. Vor allem aber prägten diese Seilschaften die Ehrungs- und Erinnerungskultur und damit die Kulturgeschichte insgesamt bis weit in die 1980er-Jahre.
Andersherum gedacht: Offizielle Ehrungen in diesem restaurativen Klima konnten im Rückblick den Ruf von AutorInnen nachhaltig schädigen. Martina Wied ist so ein Opfer des Österreichischen Staatspreises. Sie erhielt ihn, als erste Frau, 1952 zu ihrem siebzigsten Geburtstag. Doch ihre Auszeichnung war damals eher eine Verlegenheitslösung, denn als Kriterium für die Vergabe hatte man 1950 kurzerhand einen ordentlichen Wohnsitz in Österreich definiert. Das schloss bis Mitte der 1960er-Jahre elegant und ohne weitere Debatten von Hermann Broch bis Alfred Polgar alle aus, die nicht mehr nach Österreich zurückgekehrt waren – auch weil sie niemand gerufen hat. Die Auswahl an KandidatInnen aber, die (schon wieder) in Österreich lebten und sich im Nationalsozialismus nicht desavouiert hatten, war nicht groß. Der erste Preisträger war Josef Leitgeb; 1951 und 1952 ging der Preis mit Felix Braun und Martina Wied an AutorInnen, die aus dem Exil zurückgekehrt waren. Im Folgejahr wurde mit Rudolf Henz ein Repräsentant des austrofaschistischen Kulturbetriebs gekürt, und 1954 sah man schon kein Problem mehr darin, mit Max Mell ungeniert einen tief ins NS-Regime verstrickten Autor zu würdigen.
Für Martina Wied blieb vom Großen Österreichischen Staatspreis letztlich das Etikett einer Autorin der Restauration. Doch das war sie ganz bestimmt nicht. Schon in ihrem 1936 erschienenen Roman Rauch über Sanct Florian beschreibt sie, wie existenzielle Unsicherheit aufgrund gesellschaftlicher Umbrüche Radikalisierungstendenzen beschleunigt, was wenig später in den Abgrund der NS-Diktatur führte. Mit Problemzonen der bürgerlichen Gesellschaft setzte sich Martina Wied in allen ihren Werken auseinander und damit auch mit der moralischen Verantwortung ihres Herkunftsmilieus. […]
Ende 1951 erschien Das Krähennest. Begebnisse auf verschiedenen Ebenen im Herder Verlag, 1955 folgte eine Buchgemeinschaftsausgabe, dann aber blieb der Roman für mehr als ein halbes Jahrhundert vergriffen. Dabei ist dieses völlig unterschätzte Werk der österreichischen Exilliteratur ein singuläres Beispiel für die Katalogisierung der ideologischen und moralischen Verwüstungen durch den Zivilisationsbruch der NS-Diktatur und für die diskursive Verarbeitung von Exilerfahrung. Es geht um Wurzellosigkeit und Identitätskrisen, Überlebensstrategien und Verhaltensoptionen, um den Verlust alter Freunde und die Oberflächlichkeit der Beziehungen am neuen Lebensort. »Niemand könnte einsamer sein«, so die Zentralfigur Madeleine, »als ich es bin, keiner der alten Freunde – soweit sie noch erreichbar wären – kennt meinen Aufenthalt, und wer hier mit mir umgeht, weiß nicht, wer ich war, wer ich bin: eine Sprachlehrerin, die ihr Fach leidlich versteht. Auch wer mir hier Freundliches erweist, nimmt mit einer Gebrauchsausgabe der Madeleine vorlieb, wie ich mit einem Dasein, das, gegen mein früheres gehalten, unvergleichlich dürftig und unbequem ist.« (S. 73) […]
Evelyne Polt-Heinzl wurde 2017 mit dem Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik ausgezeichnet. Als Literaturhistorikerin hat sie immer wieder auf zu Unrecht vergessene Autorinnen und Autoren aufmerksam gemacht und eine Reihe von Büchern neu herausgegeben, etwa von Joe Lederer, Annemarie Selinko, Walter Toman, Martina Wied oder zuletzt von Oskar Jan Tauschinski, Friederike Manner und Hans Flesch-Brunningen.
»Zur Leseprobe von Das Krähennest
Martina Wied
Das Krähennest
Roman
Herausgegeben von Evelyne Polt-Heinzl
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