Joseph Roths Feuilletons haben nie an Aktualität verloren.
Sein erstes Feuilleton wurde 1919 in der eben gegründeten Wiener Tageszeitung Der Neue Tag publiziert, im Laufe des Jahres sollte Joseph Roth über 100 Beiträge verfassen. 1920 übersiedelte er nach Berlin, wo er u. a. für die renommierte Frankfurter Zeitung schrieb. Ab 1921 pendelte er zwischen Berlin und Wien und verfasste u. a. Artikel für Der Tag und das Prager Tagesblatt. Daneben verfolgte Roth bereits seine schriftstellerische Laufbahn und arbeitete an dem Text Das Spinnennetz, der 1923 als Fortsetzungsroman in der Wiener Arbeiter-Zeitung publiziert wurde. 1925 zog er für die Frankfurter Zeitung als Auslandskorrespondent für ein Jahr nach Paris. Danach ausgedehnte Reisen für Reportagen: 1926 Sowjetunion, 1927 Albanien und Jugoslawien, später das Saargebiet, 1928 Polen und Italien.
1929 verließ Roth die Frankfurter Zeitung und fand bis zum Sommer 1930 bei den Münchner Neusten Nachrichten eine neue journalistische Heimat. Mittlerweile war er als Journalist so gefragt, dass er wohl in fast jeder Zeitung hätte veröffentlichen können, so z. B. in der Literarischen Welt und erneut in der Frankfurter Zeitung.
1933, unmittelbar nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, emigrierte Joseph Roth nach Paris, schrieb für diverse Exilzeitungen und -zeitschriften und fand einen niederländischen Verlag für seine Romane. Dennoch lebte er in ständiger Armut, zunehmend vom Alkoholismus gezeichnet. Produktiv war Joseph Roth in seinen letzten Lebensjahren jedoch wie eh und je. So entstanden neben den Zeitungsartikeln bekannte Texte wie Beichte eines Mörders, Das falsche Gewicht und Die Kapuzinergruft, bevor er Ende Mai 1939 starb.
Auszug aus »Nacht und Hoffnungslichter« (Wiener Literaturen Band 7), Feuilletons & Texte aus Wien & Berlin
Radetzkymarsch, Die Legende vom heiligen Trinker, Hotel Savoy: Die Romane von Joseph Roth gehören auch heute noch zum viel gelesenen Teil des literarischen Kanons. Dass der Vielschreiber aber auch sehr engagiert als Journalist tätig war, ist weniger bekannt. Sowohl in Wien als auch in Berlin machte sich Joseph Roth früh einen Namen als kritischer Beobachter seiner Zeit.
Es wird eingestiegen
In die Züge nämlich. In die Züge der Südbahn, wenn zufällig kein Streik ist. Und zwar wird durch die Wartesäle eingestiegen. In welche Züge? In die Züge Nummer 31 und 35.
In der Südbahnhalle prangt die schöne Stilblüte: »In die Züge 31 und 35 wird durch die Wartesäle eingestiegen.« Man kann gerade nicht behaupten, daß diese Tafel an Deutlichkeit etwas zu wünschen übrig ließe. Wann und wohin die Züge 31 und 35 abgehen? Natürlich, wann und wohin sie wollen. Hauptsache ist: das Durch-die-Wartesäle-Eingestiegen-werden.
Wie prächtig sich doch die deutsche Grammatik auf Wiener Verhältnisse anwenden läßt! Wo erscheint die leidende Form mehr angebracht als in der Südbahnhalle? In Wien streikt man nicht. Es wird gestreikt. In Wien verkehrt man nicht. Es wird verkehrt. In Wien fährt man nicht. Es wird gefahren. Hier steigt man nicht ein. Das ist eine physische Unmöglichkeit. Es wird in der Menge Tausender Passagiere eingekeilt, erstickt, erdrückt, geohnmachtet, gewartet: schließlich aufgemacht, geschoben, getragen, gehoben; und zum Schluß eingestiegen. In Anbetracht des betrübenden Umstandes, daß es nur wenigen gelingt, alle die leidenden Formen der deutschösterreichischen Grammatik bis zur letzten, das heißt: eingestiegen werden, durchzuhalten, schlage ich folgende Tafel vor:
»Vor dem Eingestiegen-werden in die Züge 31, 35 wird durch die Wartesäle des Südbahnhofes gestorben.«
Josephus – Der Neue Tag, 10.9.1919
Papier
Das ist die Materie, die allgegenwärtig und unüberwindbar den Leitartikel wie eine Fahne über dem Jammer unserer Gegenwart schwingt. Letzter Zweck allen Geschehens ist: auf Papier mitgeteilt zu werden. So gewinnt die Mitteilung die Herrschaft über die Geschichte. Die Mitteilung macht Geschichte.
Der Krieg zeitigte eine besondere Erscheinungsform der Mitteilung: die außerordentliche Mitteilung, im Jargon der großen Zeit »Extra-Ausgabe« genannt. Die »Extra-Ausgabe« bewirkte eine Zeitlang Ereignisse, indem sie sie mitteilte. Dann aber wuchsen die Ereignisse der »Extra-Ausgabe« über den Kopf. Denn eine höhere Macht, das Pressequartier, schuf die Ereignisse, d. h. den Heeresbericht. Und diesen brachte die Extra-Ausgabe, keine außerordentliche mehr, sondern eine ordentliche Mitteilung.
Dennoch konnten sich die Leute der Macht des Papiers nicht entziehen. Der Ruf »Extra-Ausgabe!« betäubte den Zweifel. Der Glaube an das Papier blieb aufrecht bis zum Zusammenbruch des Pressequartiers und dem ganz unvorhergesehenen Kopfsprung der Geschichte, der es plötzlich eingefallen war, ein Ereignis ohne vorherige Fühlungnahme mit dem Pressequartier zu zeitigen.
Nun bleibt die Extra-Ausgabe aus. Ich hielt sie für tot, erledigt, aber vorgestern sprang sie wieder, munter und lebendig, mitten im Grabenkorso aus dem Munde eines Kolporteurs unter die Leute. Sie hatte wieder Geschichte gemacht. Sie meldete die Ermordung des Königs von Italien. Und die Leute rissen sich um die Mitteilung. Sie kostete achtzig Heller. Aber der Ruf betäubte den Zweifel. Das Papier, das fünf Jahre lang die Menschen belogen und betrogen, hat seine Macht nicht eingebüßt. Siegreich aus dem Schutt der Vernichtung erhebt sich das Papier auf den Schwingen der Extra-Ausgabe.
Josephus – Der Neue Tag, 6.10.1919
Joseph Roth
Nacht und Hoffnungslichter
Texte & Feuilletons aus Wien & Berlin
Wiener Literaturen, Band 7
Hg. von Alexander Kluy
Mit einem Vorwort von Wolfgang Müller-Funk
248 Seiten | 21,95 Euro
E-Book: 12,99 Euro
Die Reihe WIENER LITERATUREN setzt sich zum Ziel, Literatur aus Wien, über Wien, von Wiener Autorinnen und Autoren, aber auch Blicke von außen auf die Stadt zu präsentieren. In dieser Reihe erscheint Ungewöhnliches und Zeitenüberdauerndes: souverän eigensinnige Texte, die die Grenzen zwischen erzählender, feuilletonistischer und analytischer Prosa leichthändig ignorieren, dem gelebten Augenblick durch genaue Beobachtung Gehalt und Sinn, Witz und Leben verleihen – und urbane Eleganz.