Die Germanistin Dorottya Csécsei im Gespräch mit Elena Messner über ihre Romane und die Verantwortung als Autorin
Dorottya Csécsei: In Ihrem zweiten Roman mit dem Titel »In die Transitzone«, der 2016 erschienen ist und in dem Sie sich der aktuellen Flüchtlingskrise literarisch annähern, findet man auch die Spuren einiger aus Ihrem ersten Roman bekannten Fragen. In »Das lange Echo« haben Sie ausgehend von einer Darstellung des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums politische und wissenschaftliche Diskurse verhandelt. Im zweiten Roman geht es nun um menschenrechtliche Themen, wobei hier die privaten Lebensgeschichten der Figuren eine wichtigere Rolle spielen. Die beiden Texte scheinen aber trotz großer Unterschiede miteinander zu korrespondieren. Kommen wir zunächst zum aktuellen Roman, in dem Sie eine Hafenstadt zum Handlungsort machen. Sie leben und arbeiten ja seit 2013 in Frankreich, pendeln zwischen Marseille und Aix-en-Provence. Hat das bei Ihrer Entscheidung, zu diesem Thema literarisch einen Beitrag zu leisten, eine Rolle gespielt?
Elena Messner: Absolut. Die Stadt Marseille und mein Umzug dorthin waren der Anlass, mit meinem zweiten Roman zu beginnen, ich wollte eine Stadt im Süden Europas als Modell heranziehen, um die Auswirkungen des europäischen Grenz- und Migrationsregimes darzustellen.
In den letzten Jahren sind eine Menge Romane erschienen, in deren Mittelpunkt die sogenannte »Flüchtlingskrise« steht – u.a. auch im Buch »Widerfahrnis« von Bodo Kirchhoff, das den deutschen Buchpreis 2016 erhalten hat. Wie würden Sie Ihren Roman unter diesen Neuerscheinungen positionieren?
Ich glaube, dass mein Roman einen großen Abstand zu einem bestimmten Typus der sogenannten »Flüchtlingliteratur« hält, die auf die Darstellung von migrantischen Lebensrealitäten und erlebtem Leid oder auf Fluchtgeschichten fokussiert. Solche Texte sind sehr wichtig, aber mich hat das weniger interessiert, auch, weil es von Flüchtlingen selbst oft eine sehr gute Aufarbeitung ihrer eigenen Erlebnisse gibt. In der »Transitzone« geht es um etwas anderes, nämlich um die europäische Asylpolitik und ihre politischen Auswirkungen, dabei v.a. um Menschen, die sich in einem politischen Kampf engagieren, im weitesten Sinne also um soziale Bewegungen überhaupt. Ich meine damit z.B. die neuen politischen Bewegungen in Griechenland und Spanien, in Frankreich, oder in Deutschland und Österreich rund um die sogenannte »Flüchtlingskrise«. Solche großen, solidarischen Bürgerinitiativen in Städten oder überregionale Bewegungen verschwinden sehr oft wieder, oder sie nehmen andere Formen an, werden eventuell zu Parteien oder werden auf eine andere Weise institutionalisiert. Das war auch eine der Themen im Roman.
Wo bzw. wie haben Sie für den Roman recherchiert?
Für die Darstellung der politischen Arbeit mit Flüchtlingen habe ich mit Menschenrechtsaktivisten in Frankreich gesprochen, etwa in Lille, in Marseille und in Paris. Ich habe außerdem das Flüchtlingslager in Calais besucht und mit Organisationen dort gesprochen. Und natürlich habe ich theoretische und wissenschaftliche Arbeiten zum europäischen Grenzregime gelesen, etwa über die zunehmende Militarisierung des Grenzschutzes und die rasch wechselnde Asylpolitik Europas.
Was haben für Sie Kunst und Literatur mit Politik zu tun?
Für mich sind Kunst und Literatur immer politisch, weil sie entweder Stellung beziehen oder, indem sie keine Stellung beziehen, ebenfalls etwas Politisches aussagen. Gerade Romane sind außerdem oft Interpretationen des sozialen Raums, in dem wir uns bewegen – egal ob es dabei um Phantastik, Krimis, Liebes- oder Gesellschaftsromane geht. Dabei kann Literatur kritisch-subversiv bis hin zu affirmativ-konformistisch sein. »Politisch« muss nicht heißen, dass man ein System unbedingt kritisiert, man kann es ja in seinem Text oder in seinem Kunstwerk auch bejahen. Im »Langen Echo« zeige ich das am Beispiel kriegseuphorischer Schriftsteller. Und in der »Transitzone« geht es immer wieder auch um die Frage, ob Kunstaktivismus politische Wirkung hat.
Sehen Sie in der Arbeit als Schriftstellerin auch eine konkrete edukative Aufgabe?
Literatur bildet auf vielfache Weise. Zunächst einmal wird ästhetische Bildung angeboten und dann kommt die thematische Ebene hinzu, die an der Herausbildung von Bewusstsein teilhaben kann. In der »Transitzone« habe ich einige Fragen ganz offen verhandelt: Protestkulturen, Fluchthilfe, Menschenrechte. Ich habe aber auch daran gearbeitet, die Stadt als öffentlichen Raum zu inszenieren, damit sich einem beim Lesen ständig die Frage stellt, wo Öffentlichkeit beginnt, wem eine Stadt gehört, was die Stadt eigentlich ist und wo ihre Grenzen liegen. Im »Langen Echo« habe ich auch versucht, Lesende auf mehreren Ebenen intellektuell zu aktivieren: indem etwa der Wissensmangel oder das Verschweigen von Fakten dargestellt und einige für Österreich prototypische rechtskonservative Erinnerungsmuster in Frage gestellt werden, wird das Lesepublikum aufgefordert, aktiv zu werden, selbst zu recherchieren und zu den kritisierten Verhaltensmuster einen Standpunkt einzunehmen.
Annie, eine der Hauptfiguren der »Transitzone« formuliert die Frage, was jemanden überhaupt dazu bewegen kann, in die Stadt Makrique zu ziehen, wo doch zugleich so viele Menschen von dort wegziehen. Was kann einen also dazu bewegen? Was ist mit Makrique passiert?
In Makrique sind die Plätze und Straßen, an denen sich die Handlung abspielt, fast nur noch öffentliche Trauer- und Gedenkorte. Ich würde sagen, einige meiner Figuren arbeiten auf sehr unterschiedliche Weise daran, dass sich das ändert und die Stadt wieder ein Ort des Festes und des Miteinander wird.
Hatten und haben Sie beim Schreiben literarische Vorbilder?
Ich habe immer viele Bücher, die mich beim Schreiben begleiten, und zwar nicht nur literarische. Für die »Transitzone«« war Monika Mokres »Solidarität als Übersetzung« sehr wichtig, eine beeindruckende, theoretisch fundierte und spannende Dokumentation der Solidaritätsbewegung rund um das »Refugee Protest Camp« in Wien 2012. Auch Anita Mosers Studie »Die Kunst der Grenzziehung« hat mich begeistert. Literarisch sehr wichtig waren z.B. Shumona Sinhas Roman »Erschlagt die Armen!«, als ein Text, der mich positiv inspiriert hat, und Michel Houellebecqs Roman »Unterwerfung«, als ein rassistischer, machistischer, ästhetisch platter Text, der mich immer wieder sehr zum Schreiben motiviert hat. Am wichtigsten war aber Anna Seghers Roman »Transit«.
Wie kam Ihnen als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin die Idee, selbst auch Romane zu schreiben?
Ich habe die Arbeit am »Lange Echo« als Reaktion auf das Gedenkjahr anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs begonnen. Der Anlass waren mehrere Zeitungsartikel, darunter Berichte über den geplanten Umbau im Heeresgeschichtlichen Museum und über die Vorbereitung für Zeremonien des österreichischen Außenministerium für das Jahr 2014, die mich motiviert haben, einen wissenschaftlichen Artikel, an dem ich gearbeitet habe, zu einem Roman umzubauen.
Im »Langen Echo« wird starke Kritik an der in Österreich offiziell betriebenen Erinnerungskultur hinsichtlich des Ersten Weltkriegs geübt. Eine der Hauptfiguren, Vida Nemec, die Assistentin der Direktorin des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums, verlangt sogar ein »zeitgemäßeres« Gedenken. Wie sähe ein »zeitgemäßes Gedenken« an den Ersten Weltkrieg für Sie aus?
Ich habe da recht klare Vorstellungen, die freilich alle nicht neu sind: keine Scheu vor der Erzählung über Widersprüche und Konflikte in verschiedenen Erinnerungsdiskursen, kein Geschichtsrevisionismus hinsichtlich der Kriegsschuldfrage, Gedenken an die Opfer, und zwar nicht nur an jene auf der sogenannten »eigenen« Seite, und affirmatives Erinnern an die Kriegsgegnerschaft und Deserteure. Ein bisschen mehr Freude über die Entstehung der Ersten Republik anstatt der nostalgischen Trauer wegen der Auflösung eines monarchischen Imperiums wäre in vielen Kreisen auch angebracht. Und gut wäre ein stärkeres Bewusstsein dafür, was gemeint ist, wenn man von der Habsburger Armee spricht: nicht nur Deutsch sprechende sondern etwa auch slawische oder ungarische Soldaten und Offiziere. Am allerwichtigsten wäre aber ein größeres Bewusstsein für die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Konflikte, national wie international, die die Ursachen für den Krieg waren.
Der Ausdruck »offiziell betriebene Erinnerungspolitik« impliziert, dass es dabei um ein staatlich und historisch »institutionalisiertes« und durchgeführtes »Programm« geht – wenn dem so ist, wie viel Freiraum hat Ihrer Meinung nach eine staatlich geförderte Institution wie z.B. das Heeresgeschichtliche Museum bei der Organisation solcher Ausstellungen?
Die Landes- und auch die Bundesmuseen haben in Österreich alle eine grundsätzlich vorgegebene politische Ausrichtung. Das ist in einem demokratischen Land noch nicht wirklich problematisch, auch wenn klar ist, dass gerade Landesmuseen der Linie der im Land regierenden Parteien nicht stark zuwiderlaufen werden. Ein Paradebeispiele dafür, wie viel Einmischung von der Politik in Museen es geben kann, ist das Kärnter Landesmuseum, dessen Leitung in einem lange von der FPÖ regierten Land eine entsprechend provinizielle Ausrichtung hatte. Das Heeresgeschichtliche Museum in Wien ist andererseits relativ einzigartig: Erstens ist es dem Verteidigungsministerium unterstellt, also kein Landesmuseum, zweitens wird es als das offizielle »Leitmuseum« und »Imagemuseum« des Österreichischen Bundesheeres geführt. Es herrscht meiner Meinung nach ein klar militäraffirmativer Standpunkt vor, und damit verbunden dann eben auch ein habsburgaffirmativer. Es gab in diesem Museum sehr lange keine Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg und heute ist diesem Zeitabschnitt nur ein einziger Raum gewidmet, in den auch noch die Themen Erste Republik, Besatzungszeit bis 1955 und die Gegenwart hineingesteckt wurden. Ein wunderbares Beispiel dafür, wie die Mechanismen des Verdrängens und, wenn das nicht mehr möglich ist, des Relativierens und Verharmlosens von historischen Ereignissen noch heute funktionieren. Ich würde es dem Heeresgeschichtlichen Museums wünschen, dass es ein wenig mehr wie das Deutsche Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden wird.
Gab es nach dem Erscheinen Ihres ersten Romans negative Kritik?
Erstaunlicherweise nicht. Es gab natürlich anonyme Beleidigungen in Foren und bei Online-Postings. Andererseits hatte das Buch ziemlich viel Erfolg, ich wurde auf Tagungen und Lesungen, zu Gesprächsrunden eingeladen, es gab Radiointerviews, viele positive Rezensionen usw. Die Menschen, denen meine Darstellungen nicht gefallen hat, und die gibt es gewiss, haben sich öffentlich darüber jedenfalls ausgeschwiegen.
Welche Rolle spielen – und welche Verantwortung tragen – Ihrer Meinung nach zeitgenössische Kunst und Literatur bei der Gestaltung des »kollektiven Gedächtnisses« bzw. der »offiziell betriebenen Erinnerungspolitik«?
Die Rolle von einzelnen Intellektuellen ist sehr begrenzt. Schreibt man eine kritische Auseinandersetzung, wird man heute in Österreich zumeist nicht offen angegriffen sondern eher übergangen. Das Ignorieren als eine Form des Weiterschweigens ist ja Teil des Problems. Gerade deswegen finde ich, dass die Verantwortung für jeden und jede noch größer wird, weiterzuschreiben, sich mit anderen zusammenzutun und gemeinsam vorzugehen – wenn nämlich nicht nur Einzelne etwas als Thema aufgreifen, sondern mehr und mehr Intellektuelle sich dazu äußern, ist es möglich, wirklich am Bewusstsein und an dem, was man »Öffentlichkeit« nennen könnte, zu arbeiten.
Elena Messner lebt in Marseille und unterrichtet am Institut für Germanistik an der Universität Aix/Marseille. Zuletzt erschienen ihre Romane Das lange Echo (2014) und In die Transitzone (2016).
Dorottya Csécsei, geboren 1985 in Keszthely (Ungarn), lebt seit 2005 in Budapest, wo sie Germanistik und Ästhetik studiert hat. Zurzeit macht sie ihr Doktoratsstudium in Germanistischen Literaturwissenschaften, schreibt Kritiken und Rezensionen, und arbeitet an verschiedenen Kunstprojekten mit.
Fotos: 1 (Jenny Dünser)