In ihrem Erzählband Sobald ich »ich« sage, ist mir nicht mehr zu trauen begibt sich Simone Schönett auf Berg- und Talfahrt in die menschliche Psyche. Ein Auszug aus ihrem Text »Kleine Hölle«, in dem sie uns souverän und mit beißendem Humor in ein wenig besinnliches Wohnzimmer mit hoher Eskalationsstufe führt.
Kleine Hölle
Wie bei jedem ihre Anrufe achtete ich zuerst nur auf die Stimmfarbe, horchte ihrer Stimmung nach und hörte erst dann, was Mutter mir sagte, wovon sie redete.
Von »Weihnachten einmal anders«, am Meer, gemeinsam mit Carl und Auguste und den Zwillingen, in Kroatien, in einem schönen Steinhaus, nahe des Nationalparks Paklenica, wo »Der Schatz im Silbersee« gedreht worden ist.
Ich war ziemlich enttäuscht, denn die Weihnachtsfeiertage verbrachten wir sonst immer bei Vaters Familie, bei den Großeltern am Bauernhof, mit den vielen Onkeln und Tanten, Cousinen und Cousins, mit all den Verwandten, die mir am Herzen, meiner Mutter aber im Magen lagen.
Meine Enttäuschung empfand sie als kränkend; wo ich doch genau wisse, wie verhasst ihr diese Tage mit der Sippschaft seien. Meinen leisen Protest kommentierte sie mit »unreifem Verhalten«, um mir – nahtlos – wieder einmal einzuimpfen, auf welchem Level sie sich in meinem Alter, als Zwanzigjährige, befunden hatte.
»Ich weiß, Mutter, da wolltest du in Kalkutta Leprakranke pflegen.«
Damit sie mir nicht ausführlicher davon zu erzählen begann, lenkte ich rasch wieder um, lenkte ein, gaukelte ihr vor, mich für ihren fixen Plan nun doch zu erwärmen, heuchelte mein Interesse für den alten Karl-May-Quatsch, für Winnetou und die damals sogenannten Indianerfilme ihrer Jugend.
Schon auf der Heimfahrt am 23. Dezember, in dem vollen Zug, inmitten von Leuten, die sich trotz Enge und unbequemer Lage auf daheim freuten, fühlte ich mich unwohl bei dem Gedanken an das kommende Fest. Ich wollte wie immer feiern, mit den Großeltern und der ganzen Vater-Verwandtschaft, mit den christlich-bäuerlichen Traditionen, den Keksbergen und dem fettigen Karpfen.
Obwohl mein Vater bislang zu dieser »Weihnachten einmal anders«-Sache nicht mehr als »Du kennst sie ja« und »Wird sicher ganz fein« gesagt hatte, war mir klar, wie wenig er tatsächlich davon hielt.
Marie, meine kleine Schwester, war anfangs auch nicht gerade entzückt gewesen. Doch mittlerweile freute sie sich auf den Urlaub mit ihren besten Freunden.
Mit zehn hätte ich mich vielleicht auch gefreut. Auf die Tage am Meer mit den gleichaltrigen Zwillingen Valentin und Valentina. Die Kinder von Auguste und Carl waren für Marie fast wie Geschwister, sie sahen einander auch nach der Schule ständig.
Früher, als ich noch daheim gelebt hatte, waren meine Eltern mit den Zwillingseltern oft fröhlich beim Wein gesessen. Auguste arbeitete als Journalistin, erzählte gern und viel von interessanten Orten und Leuten, Carl war Musiklehrer, unterrichtete am selben Gymnasium wie mein Vater. Und die beiden waren seit Studientagen Freunde. Was man von Auguste und meiner Mutter nicht so ganz sagen konnte; sie mochten sich, auf irgendeine Weise. Aber beste Freundinnen waren sie bestimmt nicht.
Dass Auguste ihre Zwillinge ganz lakonisch auf Valentin und Valentina habe taufen lassen, sage doch schon alles – soweit Mutters oft gestellter »Befund« als erfahrene Psychologin. Mich kümmerte nicht, was meine Mutter hinter Augustes Wesen alles vermutete. Ich mochte die Frau und mir gefiel die Namenswahl ihrer Kinder.
Am 24. Dezember war Kajetan, mein Vater, beim Kaffee in der Früh schon derart brummig, dass ich es hätte ahnen müssen, noch bevor ich es sah: Mutters aufgekratzten Augenaufschlag. Der uns Dauerredefluss bescheren würde.
Und wie sie plapperte, von dem ersten Spaziergang zum Meer, den wir heute noch machen würden, dann würde es gleich hinauf in die Berge gehen, zum wilden Rosmarin, den sie sammeln wollte. Sie faselte von Steinen, die sie nicht suchen, die sie aber finden würde, die werde sie dann zu einem archaischen Steinaltar aufschichten und dort würden wir das Fest begehen. Vater kommentierte das nur mit einem »Aber sicher, Thea«. Was sie veranlasste, ihm zu versichern, dass er es zwar nicht glauben müsse, aber schon sehen werde.
Ich nahm das Angebot, bei Auguste und Carl im Auto mitzufahren, gerne an.
Marie und die Zwillinge fuhren mit meinen Eltern im Auto. Vor uns.
Auguste, die am Steuer saß, meinte, Kajetan rase, als gelte es, ein Rennen zu gewinnen.
Was Carl, einsilbig wie meist, mit »Sportlehrer eben« kommentierte.
»Na, Rosa, was meinst du?«, fragte Auguste.
»Wozu?«
»Zu einem Frauenüberholmanöver.«
»Aber klar.«
Und schon stieg sie fester aufs Gas und hob an, es meinem Vater zu zeigen, der seinerseits ihr zeigte, wo, wie er gerne sagte, der Bartl den Most holte.
Wir befanden uns auf der Überholspur, ich sah die uns zujubelnden Kinder, meine winkende Mutter und Vater, von dem ich wusste, dass er sich nie geschlagen gab.
Er gönnte Auguste den kurzen Moment des vermeintlichen Siegs, grinste, und brauste dann rechts von uns davon.
Als wir endlich in dem winzigen kroatischen Dorf ankamen, war es gegen drei Uhr nachmittags. Der Vermieter, ein drahtiger älterer Mann mit freundlichem Schnauzbart, hatte uns schon erwartet und zeigte uns das alte Steinhaus. Es war ganz modern eingerichtet, unten ein großer Raum, Küche und Ess- und Wohnzimmer mit einem offenen Kamin, wo ein gemütliches Feuer prasselte; im ersten Stock drei Schlafzimmer und, leider, nur ein Badezimmer – für acht Menschen, wie sollte das gehen?
Mutter herrschte mich an, ich solle mich nicht so anstellen; die Mehrheit der Menschheit lebe ganz ohne sanitäre Anlagen.
Der nette Kroate überging die peinliche Situation, indem er in die Hände klatschte, »Bitte zu Tisch« sagte und uns alle hinunterbat; es gebe in dieser Gegend hier zu Weihnachten ein ganz spezielles Gebäck, seine Frau habe es gemacht und schicke es uns mit gesegneten Weihnachtswünschen; es war eine Art Krapfen, nur sehr viel besser, weniger fettig, dafür zitroniger. Der Vermieter deutete auf die Obstschale, die Zitrone, Orangen und Grapefruits seien aus dem eigenen Garten. Auch der Wein in der großen Korbflasche sei aus seinem kleinen Weingarten.
Bevor er auch mir daraus einschenkte, fragte er nach meinem Alter. Mit zwanzig Jahren, sagte er, da sei er schon verheiratet gewesen.
Es folgte das Zuprosten, die guten Weihnachtswünsche.
Mein Vater meinte, er schätze diese einfachen Bauernweine, die sich fast wie Wasser trinken ließen. Was Carl und Auguste bestätigten. Und meine sich unbeobachtet fühlende Mutter deutlich demonstrierte.
Mutter, die als Einzige weder vom Gebäck noch von der Salami, dem Käse, den Oliven oder dem Weißbrot nahm, aber viel dummes Zeug daherplapperte.
Als der Vermieter sich verabschiedete, war es gegen vier. Zu spät für all das, was Mutter vorgehabt hatte. Das Meer sehen, die Berge besteigen, den wilden Rosmarin sammeln.
Für einen kleinen Erkundungsspaziergang aber war es noch früh genug; Vater kannte die Gegend, war schon öfter hier gewesen. Er schärfte uns allen ein, am Weg zu bleiben, uns vom Bach und vor allem von den teils baufälligen Brücken fernzuhalten, weil es bereits zu dämmern begann und man aufpassen musste, wohin man dort seinen Fuß setzte.
Was wir heute zu sehen bekommen würden, sagte er, sei nur der allererste Abschnitt des Nationalparks mit seinen Felsen und Höhlen und Schluchten.
Auguste und ich hatten ein gemächlicheres Tempo eingelegt, Vater und Carl marschierten flotten Schrittes voran, während meine Mutter mit den Kindern zu laufen und zu kreischen begann, als sei sie selbst auch eine Zehnjährige.
Mutter und die Kinder, die wir bald aus den Augen verloren, aber doch immer in Hörweite hatten. Mutter, die wie ein bezechter Papagei »Kommt, Kinder, Kinder!« kreischte, während Marie und die Zwillinge wilde Tiere imitierten, deren Gebrüll sie gegen die Felsen schleuderten, damit es als Echo wiederkam. Und wieder Mutters »Kommt, Kinder, Kinder!«, das sich schrill im Laufgesang weiter entfernte.
»Kinder, Kinder!« Wieder und wieder, dieses dumme Spiel.
Bis dann nichts mehr von ihr zu hören war.
Bis es plötzlich totenstill in dieser Schlucht, in diesem Tal wurde.
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