Tiere und Literatur: Das ist seit Anbeginn ein Liebesverhältnis. Martin Thomas Pesl hat Fährten aufgenommen, Spuren verfolgt und festgestellt: Der Einsatz vierbeiniger Freunde, gefiederter Feinde, schwimmender Gefahren und trompetender Hindernisse in literarischen Werken ist vielfältiger, als man denkt.
Vom Affen Rotpeter bei Kafka über die Esel bei Orwell und Cervantes bis zu Murakamis Frosch, von Nabokovs Grauhörnchen über den Fuchs im Kleinen Prinzen bis zu Martin Suters Elefant und Michail Bulgakows Kater – ihnen und noch vielen mehr ist er auf seiner literarischen Spurensuche von der Antike bis zur Gegenwart begegnet. (Martin Thomas Pesl: Das Buch der Tiere. 100 animalische Streifzüge durch die Weltliteratur)
Autor: Snorri Sturluson
Titel: Prosa-Edda
(aus dem Altisländischen von Karl Simrock)
Originalfassung: ca. 1220
»Die Midgardschlange speit Gift aus, daß Luft und Meer entzündet werden; entsetzlich ist ihr Anblick, wenn sie dem Wolf zur Seite kämpft.«
Erstaunlich, wofür es alles eine eigene Bezeichnung gibt. Ein Ouroboros (Plural: Ouroboroi) ist wörtlich übersetzt ein Schwanzverzehrer.
Und jetzt bitte hier keine kannibalistischen Sexfantasien.
Gemeint ist ein Tier (häufiger jedoch ein Bild von einem Tier), das sich selbst in den Schwanz beißt und folglich den Eindruck kreisförmiger Unendlichkeit erweckt. Solche Ikonografien gab es schon im alten Ägypten.
Jörmungandr, die Midgardschlange, muss also Hobbyägyptologin gewesen sein und sich gedacht haben: Das probiere ich auch. Dabei umschlang sie die ganze Welt.
Die Seeschlange ist die gemeinsame Tochter des göttlichen Scherzkekses Loki und der Riesin Angrboda, geboren nach dem Wolf Fenrir und vor dem … undefinierbaren Zwischenwesen Hel. Ein mittleres Kind also, dessen Name »Erdenzauberstab« oder »gewaltiges Ungeheuer« bedeuten kann: Da sind die Probleme vorprogrammiert, vor allem bei so einem Riesenbaby, das dafür schon sehr früh, spielerisch und durch praktische Anwendung lernt, dass die Erde keine Scheibe ist.
Einmal lässt sich Jörmungandr in eine Katze verwandeln, die aber auch nicht weniger riesig ist. Thor soll die Katze anheben, um seine Stärke zu beweisen, und schafft immerhin ein Bein – wahrscheinlich kann Jörmungandr vor dem Hintergrund ihres gewohnten Schlangendaseins mit Beinen nicht so gut umgehen (und doch gibt es Gemälde davon – von einem gewissen Johann Heinrich Füssli!).
Ein andermal erschreckt sie Thor und den Riesen Hymir bei deren Angelausflug, als sie sich von ihnen in ihrer gigantischen, wahrhaft welthaltigen Größe aus dem Wasser ziehen lässt. In altnordischen Zeiten wurde kein Motiv so oft bildnerisch verewigt wie dieses.
Am Ende der Welt schließlich, zur Ragnarök, der Götterdämmerung, großspurig auch »Weltenbrand« genannt, wird die Midgardschlange den Himmel vergiften. Sie wird nebenbei auch Thor vergiften, der aber gerade lange genug durchhalten wird, um – bei ihrer dritten Begegnung – der Schlange mit seinem berühmten Hammer (genannt: Mjölnir) den Garaus und danach noch genau neun Schritte zu machen, bevor alles, alles endet.
Und eine neue Welt entsteht. Vielleicht ist die ja dann gut genug, um von wohlmeinenderen Ouroboroi umarmt zu werden.
Gattung: Serpens ouroboros?
Lebensraum: die ganze Welt
Namensbedeutung: Erdenzauberstab
Beruf: Kosmologin
Ökologieverständnis: umfassend
Fabeltauglichkeit: *****
Sozialverhalten: Free Hugs
Ernährung: Schlangenschwanz
Natürlicher Feind: der Hammer
Martin Thomas Pesl lebt als Autor, Übersetzer, Sprecher und Lektor in Wien. Er ist freier Theaterkritiker bei der Wiener Stadtzeitung Falter.
Martin Thomas Pesl
Das Buch der Tiere
100 animalische Streifzüge
durch die Weltliteratur.
Illustriert von Kristof Kepler
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