Tiere und Literatur: Das ist seit Anbeginn ein Liebesverhältnis. Martin Thomas Pesl hat Fährten aufgenommen, Spuren verfolgt und festgestellt: Der Einsatz vierbeiniger Freunde, gefiederter Feinde, schwimmender Gefahren und trompetender Hindernisse in literarischen Werken ist vielfältiger, als man denkt.
Vom Affen Rotpeter bei Kafka über die Esel bei Orwell und Cervantes bis zu Murakamis Frosch, von Nabokovs Grauhörnchen über den Fuchs im Kleinen Prinzen bis zu Martin Suters Elefant und Michail Bulgakows Kater – ihnen und noch vielen mehr ist er auf seiner literarischen Spurensuche von der Antike bis zur Gegenwart begegnet. (Martin Thomas Pesl: Das Buch der Tiere. 100 animalische Streifzüge durch die Weltliteratur)
Autorin: Joanne K. Rowling
Titel: Harry Potter und der Stein der Weisen u.a.
(aus dem Englischen von Klaus Fritz)
Originalfassungen: ab 1997
»Ich kauf dir eine Eule. Alle Kinder wollen Eulen, die sind unglaublich nützlich, besorgen deine Post und so weiter.«
Hedwig ist eine weibliche Eule. Heißt ja auch: »die« Eule. Zum Glück. Hedwig kann auch ein männlicher Vorname sein, war ursprünglich wohl auch so geplant von den alten germanischen Vorvätern: »den Kampf kämpfen«, heißt es ethymologisch. Und kriegerisch ist die brave Postbotin nun wirklich nicht. Der tote Frosch, den sie hin und wieder gerne ungefragt apportiert, war von Natur aus nicht schwer zu bezwingen.
Der immer noch eher omamäßig anmutende Vorname erlebte nach dem Erscheinen der »Harry Potter«-Reihe gewiss eine neues Hoch. Mitte der 2000er-Jahre saßen in den Grundschulbänken neben den neuen Herminen bestimmt auch einige Hedwigs – ihnen ist zu wünschen, dass es sich durchwegs um Mädchen handelt.
Ähnlich wie ihr Besitzer Harry Potter, dem der nette Hagrid sie in der Winkelgasse zum elften Geburtstag schenkte, ist sie ein treu an Ohren knabberndes Haustier, das wahrscheinlich als recht langweilig zu beschreiben wäre – einfach eine x-beliebige der insgesamt 29 (!) im Potter-Universum auftauchenden Eulen –, gäbe es da nicht diese Auserwähltheit und diesen sich jahrelang hinziehenden Erzfeindkampf auszusitzen. Als Schnee-Eule nicht in England heimisch, ist sie gerade durch ihr weißes Gefieder ein bunter Hund und darf sich in Krisenzeiten nicht blicken lassen.
Eine Aktion wie die des Haustiers von Harrys Schulkollegen Ron Weasley würde sie sich nie einfallen lassen, auch wenn der Knalleffekt ein beträchtlicher wäre: Die Ratte Krätze entpuppt sich erst im dritten Band als verwandelter Verräter Peter Pettigrew. Vielleicht würde sich in der 27. Fortsetzung herausstellen, dass alles Betrug und Hedwig nur eine eher träge Spionin des Dunklen Lords war, dessen Name nicht genannt werden darf.
Aber sie ist eines der (gar nicht so vielen) tragischen Opfer, die jede Fantasyreihe ertragen muss. Als sie in der epischen Schlacht zwischen Gut und Böse im letzten Teil stirbt, markiert das gleichzeitig Harrys Verlust der Unschuld und den Eintritt ins Erwachsenleben. Auch er, als Brillenträger sozusagen ein Eulerich unter den Menschen, zieht kampflustig die weiße Weste aus.
Apropos weiße Weste: Vor dem Aufschrei 2016, die Oscar-Akademie sei rassistisch, blieb ein anderer Blockbuster-Skandal relativ unbeschrien: Alle sieben Eulen, die Hedwig im Film ihren Körper liehen, wurden mit Männchen besetzt. Und warum? Weil männliche Schnee-Eulen weißeres Gefieder haben als weibliche. #sowhite! Da ist es das Mindeste, dass die beliebteste Melodie aus den »Potter«-Filmen unter dem Titel Hedwig’s Theme auf den Soundtracks auftaucht.
Gattung: Bubo scandiacus
Geschlecht: weiblich
Lebensraum: England
Ernährung: Mäuse und Frösche
Beruf: Briefträgerin
Stärke: Treue
Gefieder: weiß
Soundtrack: John Williams
Natürlicher Feind: der Dunkle Lord
Martin Thomas Pesl lebt als Autor, Übersetzer, Sprecher und Lektor in Wien. Er ist freier Theaterkritiker bei der Wiener Stadtzeitung Falter.
Martin Thomas Pesl
Das Buch der Tiere
100 animalische Streifzüge
durch die Weltliteratur.
Illustriert von Kristof Kepler
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