Was wäre die Welt ohne Schurken? Sherlock Holmes ohne Moriarty, Paris ohne Fantômas oder gar das Monster ohne Frankenstein? Im Herrn der Ringe würde vermutlich ununterbrochen gepicknickt, Alice würde den lieben langen Tag nur durchs Wunderland hopsen und Hannibal Lecter an Sojawürstchen knabbern. (Martin Thomas Pesl: Das Buch der Schurken. Die 100 genialsten Bösewichte der Weltliteratur)
Autorin: Joanne K. Rowling
Titel: Harry Potter und der Orden des Phönix
(aus dem Englischen von Klaus Fritz)
Originalfassung: 2003
»Sie reichte ihm eine lange, dünne schwarze Feder mit ungewöhnlich scharfer Spitze.
»Ich möchte, dass Sie schreiben: Ich soll keine Lügen erzählen«, befahl sie leise. »Wie oft?«, fragte Harry, glaubwürdig Höflichkeit heuchelnd.
»Oh, so lange es dauert, bis die Botschaft sich einprägt«, sagte Umbridge mit ihrer süßlichen Stimme.
»Fangen Sie an.« Sie ging hinüber zu ihrem Schreibtisch, setzte sich und beugte sich über einen Stapel Pergamente, offenbar Aufsätze, die es zu benoten galt. Harry hob die scharfe schwarze Feder, dann fiel ihm auf, was fehlte.
»Sie haben mir keine Tinte gegeben«, sagte er.
»Sie werden keine Tinte brauchen«, sagte Professor Umbridge mit dem leisen Anflug eines Lachens in der Stimme.
Harry-Potter-Kenner wissen natürlich, dass der schlimmste Bösewicht aus dieser Reihe (ach was, der ganzen Welt) der ist, dessen Name nicht genannt werden darf. Er weist Merkmale verschiedenster Entitäten des Grauens aus der realen und fiktiven Geschichte auf, und wir alle gewöhnen uns rasch daran, uns ganz schrecklich vor dem Dunklen Lord zu fürchten, auch wenn wir erst allmählich erfahren, wieso.
Als dann aber im fünften Band aus dem Nichts Dolores Umbridge auftaucht, den Lehrstuhl für die Verteidigung gegen die Dunklen Mächte übernimmt und eine ganz reale, physisch (auch für Leser spürbar) unter die Haut gehende Terrorherrschaft aufzieht, erstrahlt das Harry-Potter-Grauen plötzlich nicht in finsterem Grauschwarz, sondern in einem Heppipeppi-Gutschigu-Pink, das man so schnell nicht vergisst. Denn das pinke Monster benutzt eine Feder, die einem die Worte, die man schreibt, in die Haut kratzt. Eine andere Waffe, die sie unbekümmert einsetzt, ist der Folterzauberspruch »Crucio«, der einem ganz unmittelbar höllische Schmerzen zufügt.
Dass J. K. Rowling in ihrer elaborierten Parallelwelt aus Zauberern und Muggeln von Entwicklungen in der echten Geschichte des 20. Jahrhunderts beeinflusst war, wird selten so deutlich wie am Beispiel von Professor Umbridge: Äußerlich klein gewachsen, gibt sie sich als Kätzchenfan und auch sonst ziemlich kitschig. Das Frustrierende: Die niedliche Mädchenwelt ist keineswegs Fassade. Dolores ist halt eher dümmlich, was sie nicht davon abhält, intellektuell zu tun und Manifeste zu verfassen (SCHLAMMBLÜTER und die Gefahren, die sie für eine friedliche reinblütige Gesellschaft darstellen). Den eigenen Gelegenheitssadismus vertritt sie gewiss auch vor sich selbst als loyale Überzeugung. Ausleben darf sie ihn nur als zufällige Profiteurin komplexer Machtspiele im Hintergrund, sodass man baff vor ihr steht wie vor einem unangekündigt ausbrechenden Vulkan.
Der Nazi-Analogie folgend wird Umbridge, als dann »alles gut ist« (die berühmten letzten Worte der Saga), der Verbrechen gegen die Muggelheit angeklagt, wie die Autorin mitgeteilt hat. Ebenfalls passend zur bitteren Ironie so manchen verbohrten Verfechters absoluter Reinblütigkeit: Es stellt sich heraus, sie ist selbst ein Halbblut.
Zweiter Vorname: Jane
Herkunft: Großbritannien
Berufe: Lehrerin, Großinquisitorin, Ministerialbeamtin
Hobby: Tät(owier)erin
Tier: Kröte
Farbe: pink
Bibliografie: SCHLAMMBLÜTER und die Gefahren, die sie für eine friedliche reinblütige Gesellschaft darstellen
Filmdarstellerin: Imelda Staunton
Martin Thomas Pesl
Das Buch der Schurken
erscheint am 20. März 2016
mit Illustrationen von Kristof Kepler
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