Was wäre die Welt ohne Schurken? Sherlock Holmes ohne Moriarty, Paris ohne Fantômas oder gar das Monster ohne Frankenstein? Im Herrn der Ringe würde vermutlich ununterbrochen gepicknickt, Alice würde den lieben langen Tag nur durchs Wunderland hopsen und Hannibal Lecter an Sojawürstchen knabbern. (Martin Thomas Pesl: Das Buch der Schurken. Die 100 genialsten Bösewichte der Weltliteratur)
Autor: George Orwell
Titel: Farm der Tiere
(aus dem Englischen von Michael Walter)
Originalfassung: 1945
»Und so ging die Geschichte von Geständnissen und Hinrichtungen fort, bis ein Leichenhaufen vor Napoleons Füßen lag und die Luft schwer vom Blutgeruch war, den man seit Jones’ Vertreibung dort nicht mehr gekannt hatte.«
Napoleon, dieses Schwein! Wie ironisch, dass von allen fiktiven Übeltätern gerade dieser Berkshire-Eber seinem historischen Vorbild am ähnlichsten ist: In George Orwells animalischer Parabel auf die sowjetische Revolution kommt dem Oberschwein die Rolle Stalins zu. Es ist fast, als läse man einen historischen Roman, und zwar einen mit unglaublich visionärer Kraft. Denn auch die nordkoreanischen oder lateinamerikanischen Diktatoren mit ihrer Art, sich in ihre großzügigen Gemächer zurückzuziehen, alle paar Wochen bei Paraden ihr Gesicht zu zeigen und dafür ihr Porträt überall aufhängen zu lassen, finden sich in diesem Napoleon widergespiegelt.
Die Geschichte wiederholt sich, auch wenn sie speziesübergreifend interpretiert wird: Anfangs darf man Napoleon gerne Idealismus unterstellen. Er folgt den Lehren des verstorbenen Old Major (einer Mischung aus Marx, Lenin und Ausstellungsschwein) und orchestriert zusammen mit seinem Kollegen Schneeball (im echten Leben: Leo Trotzki) die Rebellion gegen die Menschen, die die Farmtiere unterdrücken und ausnutzen. Die Sympathien sind auf seiner Seite, solange sich noch alle an die siegreiche Schlacht am Kuhstall und an die sieben Gebote der Revolution erinnern können. Als die Konflikte mit Schneeball unüberbrückbar werden, lässt Napoleon ihn durch eine Schar Kampfhunde verjagen und stilisiert ihn zum Klassenfeind hoch. Hier schon horcht der schurkensensibilisierte Leser auf: Sich andere Tierarten als Wächter heranzüchten – das muss doch von langem Huf geplant worden sein!
Den Analphabetismus der meisten anderen Tiere ausnutzend werden die sieben Gebote von Napoleon und seinen Schergen nach und nach abgeändert, bis sie auf ein einziges Gebot hinauslaufen: »Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher.« Sein Erfüllungsgehilfe Quiekschnauz – selbst eine ziemliche Sau – manipuliert die öffentliche Meinung wortgewandt, während die Reden des großen Genossen Revolutionsführers eher knapp und doch pathetisch ausfallen. Am Ende paktiert schwein nicht nur mit den Zweibeinern, sondern stellt sich auch selbst auf die Hinterbeine und macht einen auf Mensch. Wie in der Realität stellt sich die Frage: Hätte Napoleon mehr dafür tun können, die Ideale seiner Revolution aufrechtzuerhalten, war sich aber zu bequem dafür? Oder waren die Umstände von Anfang an schlecht geplant und zum Scheitern verurteilt, was er nur nicht einzugestehen die Größe hatte?
Der französische Übersetzer der Erzählung fand den Namen Napoleon übrigens unpassend und ersetzte ihn durch »César«. Aber wenn uns Orwells Fabel etwas gelehrt hat, dann dass im Endeffekt alle Politiker der Weltgeschichte gleich, nur manche eben gleicher sind.
Rufname: Unser Führer,
Genosse Napoleon
Herkunft: Großbritannien
Gattung: Berkshire-Eber
Beruf: Revolutionsführer
Pressekontakt: Quiekschnauz
Anläufe zum Windmühlenbau: ♦♦♦
Erzfeind: Schneeball
Vorbild: Stalin
Martin Thomas Pesl
Das Buch der Schurken
erscheint am 20. März 2016
mit Illustrationen von Kristof Kepler
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