Was wäre die Welt ohne Schurken? Sherlock Holmes ohne Moriarty, Paris ohne Fantômas oder gar das Monster ohne Frankenstein? Im Herrn der Ringe würde vermutlich ununterbrochen gepicknickt, Alice würde den lieben langen Tag nur durchs Wunderland hopsen und Hannibal Lecter an Sojawürstchen knabbern. (Martin Thomas Pesl: Das Buch der Schurken. Die 100 genialsten Bösewichte der Weltliteratur)
Autor: a learned man writing of old times (Zitat J.R.R. Tolkien)
Titel: Beowulf
(aus dem Altenglischen von Martin Lehnert)
Originalfassung: 8. Jh.
»Da war am Morgen mit Tagesanbruch / Grendels Kampfkraft den Männern unverborgen. / Da wurde nach dem Festmahl Klage erhoben, / ein großes Morgengejammer. Der berühmte Fürst, / der altgute Edeling saß unfroh, / duldete, kraftvoll, trug Degensorge, / nachdem sie des Bösen Spur gesehen hatten, / des elenden Geistes. Das Leid war zu stark, / abscheulich und langwährend. Nicht war es eine längere Frist, / sondern nach einer Nacht führte er wiederum / mehr der Mordtaten aus – und er trauerte nicht deswegen –, / Feindschaft und Frevel; er war zu fest in ihnen. «
Das Beowulf-Epos aus dem alten, dem sehr alten England ist so ein Werk, über das wenig wirklich bekannt ist und über das daher wesentlich mehr Worte der Spekulation geschrieben wurden, als im eigentlichen Text enthalten sind. Der ultimative Gegenspieler ist trotzdem da, denkbar simpel: ein Ungeheuer, geschaffen im Geiste Kains, der den Abel erschlug.
Auf Abbildungen sieht Grendel ein bisschen aus wie King Kong (oder Frankensteins Monster), Beschreibungen machen ihn zum skandinavischen (Riesen-)Troll, und der hehre Held Beowulf muss aus Schweden anreisen, um ihm im Moore den Garaus zu machen.
Das tut er auch und braucht dazu gut 100 Verse, dann ist der sogenannte »Grendelkampf« zu Beowulfs Gunsten entschieden. »Gottes Zorn« als Waffe hat dem Monster nicht gereicht, und auch, dass mit einem unheimlichen Licht im Auge »trottete auf den bunten Boden der Feind«, kann Beowulf nicht schockieren. Er reißt dem Armen den Arm aus, der als Trophäe dient und eine Schulterwunde hinterlässt, mit der sich der tödlich Verwundete davon-, genau: -trollt.
Und was macht man als großes, gefährliches Scheusal, wenn man nicht mehr weiterweiß? Man schickt seine Mami in den analog so betitelten »Grendelmutterkampf«. Die hält schon mehr als 600 Verse durch, bis sie vom tapferen Schlächter mithilfe eines zufällig genau im richtigen Moment bereitstehenden Wunderschwertes heldenhaft beseitigt wird. Ebenfalls zufällig im Weg liegt dann Grendels Leiche, die sicherheitshalber noch enthauptet wird.
Experten vermuten, dass der Name Grendel sich auf »grindan«, »grindel« bezieht, was Zähneknirschen bedeutet und auf ein effizientes Werkzeug zum Hervorrufen von Schrecken hinweist. Der amerikanische Autor John Gardner erzählte die Geschichte 1971 aus Grendels Sicht, die 1981 als Animationsfilm und 2006 als Oper erschien (jeweilige Titel: Grendel, Grendel Grendel Grendel bzw. Grendel, Transcendence of the Great Big Bad). In einer anderen Verfilmung hat der Unhold gar so etwas wie eine Freundin, die Hexe Selma. Ob das dem unbekannten Verfasser des Beowulf-Epos gefallen hätte?
Herkunft: Jütland
Berufung: Ungeheuer
Markenzeichen: Zähneknirschen
Lieblingslied: Trollalala
Schwäche: Muttersöhnchen
Anzahl der Arme: ungerade
Vorbild: Kain
Erzfeind: Beowulf
Martin Thomas Pesl
Das Buch der Schurken
erscheint am 20. März 2016
mit Illustrationen von Kristof Kepler
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