In der Kolumne Leseproben gibt es regelmäßig Einblicke in Romane, Erzählungen und Gedichtbände. Alle Texte sind bereits in Buchform erschienen.
Der Alltag als Abenteuer. Ein Winterspaziergang bei geöffneten Fenstern, eine Radtour von der Küche ins Schlafzimmer, ein paar Stunden im Schrank bei den Winterkleidern oder Detektivarbeit vorm Bücherregal – Hanno Millesi erzählt in seinem humorvollen und hintergründigen Roman von einem Menschen, der sich auf Expeditionen begibt, ohne die eigene Wohnung zu verlassen. Denn der Sinn des Lebens lässt sich ebenso unter dem eigenen Sofa aufspüren, wie ein Stück Unendlichkeit im auslaufenden Badewasser verlorengehen kann.
I
[…]
Auf der Küchenablage entdecke ich eine tote Spinne. Sie liegt auf dem Rücken, und ihre abgeknickten acht Beine sind auf den Plafond gerichtet, als hätte sie bis zuletzt irgendetwas aus dieser Richtung erwartet. Ihr Anblick lässt mich an Mörder im Fernsehen denken. Mörder haben es mitunter eilig, Tote aus ihrer Wohnung verschwinden zu lassen, ehe Gesetzeshüter auf die Idee kommen, sich bei ihnen umzuschauen. Das Beiseiteschaffen der Leichen stellt sich in der Folge mitunter als schwieriger heraus, als es war, denjenigen oder diejenige vom Leben in den Tod zu befördern. Zumindest ist es mit einer Reihe von Handgriffen verbunden, die man sich einfacher vorgestellt hat, als die eigene Unbescholtenheit noch nicht auf dem Spiel stand. Wie viele Leichen, frage ich mich, liegen eigentlich sonst noch so bei mir herum?
Ich knie mich hin und suche den Küchenboden ab. Neben dem Mülleimer stoße ich auf einen Brotkäfer, mit dem es so plötzlich vorbei gewesen sein muss, dass ihm nicht einmal Zeit blieb, alle empfindlichen Körperteile unter seinem rotbraunen Panzer in Sicherheit zu bringen. Die feine Behaarung steht ihm zu Berge, als hätte er unmittelbar vor seinem Tod etwas Entsetzliches mitansehen müssen. Zudem finde ich unter dem Küchentisch jede Menge Füßchen, Fühlerchen und sonstige Fragmente, die allesamt einmal zu Insekten oder Spinnentieren gehört haben. Einem professionellen Ermittler reichen dieserart Spuren zweifellos, unabhängig davon, dass sich kein vollständiges Opfer daraus zusammensetzen lässt.
Im Kühlschrank liegt eine Sardine. Gemeinsam mit Walnüssen und Pfefferschoten schwimmt sie in einer Pfütze Pflanzenöl. Im Gegensatz zu dem Brotkäfer, den es inmitten seines alltäglichen Existenzkampfes erwischt haben dürfte, wurde die Sardine mit biologischen Mitteln konserviert und in der Kälte aufgebahrt wie die Ehefrau eines Pharaos.
Mein Blick wandert durch das Innere des Kühlschranks. Jede Kleinigkeit kann sich als wichtig erweisen, mein Leumund ihretwegen seine Glaubwürdigkeit einbüßen. Auf dem Boden der Gemüselade entdecke ich zwei tote Ameisen. Ich bin sicher, sie sind erfroren. Gemüse ist keines da. Theoretisch könnten sie also auch verhungert sein. Was die Ameisen betrifft, stellt die Todesart für mich keinerlei Rätsel dar, wohingegen ich im Fall der Sardine auf Spekulationen angewiesen bin. Wahrscheinlich ist sie im Schlepptau eines Hochseefischers in eine Konservendose geraten und da drin aus Einsamkeit oder vor Langeweile umgekommen.
Inzwischen bin ich ins Schlafzimmer vorgedrungen. Unter meinem Bett finde ich eine fette Stubenfliege. Sie scheint noch nicht lange tot zu sein. Ich kann das zwar nicht durch Handauflegen feststellen, nachdem ich sie eine Weile betrachtet habe, vernehme ich jedoch das Echo ihres letztendlich aussichtslosen Todeskampfes. Was mag sie unter meinem Bett gewollt haben? Hielt sie sich versteckt, lag sie auf der Lauer? Ich frage mich, ob ihre Anwesenheit meinen Schlaf beeinträchtigt hat und, falls ja, ob diese Beeinträchtigung stärker ausgefallen ist, als sie noch am Leben gewesen ist. Vielleicht hatte sie sich unter mein Bett verirrt und konnte hier unten nicht mehr starten, wie es Fliegen auch nicht gelingt, Fensterscheiben zu überwinden, begreifen sie doch ihr Vorhandensein nicht, sondern sehen lediglich, dass dahinter die Freiheit liegt.
Auf dem Weg zum Schrank trete ich beinahe auf den Körper eines Heimchens. Draufzutreten wäre nicht weiter schlimm gewesen, da es sich bei genauerer Untersuchung nur noch um das Gehäuse, die schalenartige Ummantelung seines Leibes handelt. Angehörigen eines Naturvolkes mag das etwas bedeuten, ich betrachte ein solches Überbleibsel rein wissenschaftlich. Naturvölker fragen sich vielleicht, ob der restliche Körper des Tieres in eine Form von Paradies eingegangen ist, in das auch gelangt, wer nicht lesen und schreiben kann. Ich stelle die Vermutung an, dass Angehörige dieser Spezies ihr Äußeres saisonal bedingt wechseln. Stimmen werden beide Theorien wohl nicht.
Im Wohnzimmer dauert es lange, bis ich fündig werde. Hier kommt auch der Staubsauger am häufigsten zum Einsatz, denke ich mir. Aber nicht hinter dem Fernsehapparat: eine halbe Wespe, ein Marienkäfer und ein wenig Lurch, bei dem es sich zwar um kein Tier handelt, in dem man jedoch mit ein bisschen Fantasie eine Spinne erkennen kann, die sich in ihrem eigenen Netz verfangen hat und eine schiefe Ebene hinuntergekullert ist. Ich sammle alle Beweisstücke auf und habe dabei – vielleicht aufgrund der Nähe zum Fernsehgerät – das Gefühl, nach Knabbereien zu greifen.
Als ich das Wohnzimmer wieder verlassen will, bemerke ich eine Herbstgrasmilbe, deren lebloser Körper in eine Fuge meines Parkettbodens getreten wurde. Warum es die hierher verschlagen hat? Ich dachte, die fühlen sich auf den Körpern von Hunden und Katzen am wohlsten, und ich erinnere mich nicht, wann sich so ein Tier das letzte Mal in meiner Wohnung aufgehalten hat. Vielleicht wurde die Milbe von meiner Lederjacke angelockt. Tierschützer sprechen immer wieder von dem in Material dieser Art nach wie vor präsenten Leid seiner ehemaligen Besitzer. Kann es sein, dass sie damit gar nicht so unrecht haben? Ich befeuchte eine Fingerspitze und befördere die tote Milbe zu den restlichen Kadavern.
Ehe ich in die Küche zurückkehre und meine Runde somit beschließe, komme ich an der Garderobe vorbei. Meinen Mantel taste ich ab, als handle es sich um einen Verdächtigen, der sich verdünnisieren wollte und jetzt von mir nach Waffen durchsucht wird. Während ich die Ärmel abklopfe und in die Taschen lange, purzelt eine Motte aus dem dichten Gewebe des dicken Stoffes. Eigentlich purzelt sie nicht heraus, sondern wird von meinen gewissenhaften Handgriffen aufgescheucht. So gesehen handelt es sich bei dieser Entdeckung im eigentlichen Sinn auch nicht um eine Leiche. Meine spontane Reaktion ändert das jedoch von einem Moment zum nächsten. Es muss aussehen, als verfiele ich in hektischen Applaus, etwa, um meiner Recherche die entsprechende Anerkennung zu zollen. Für die Motte ist dieser Vorstellung gemäß die Rolle einer Trophäe vorgesehen.
Um mich nicht in Sentimentalitäten zu verlieren, packe ich sie zu den restlichen toten Tieren und Körperteilen von mit ziemlicher Sicherheit toten Tieren. Schmunzelnd stelle ich fest, wie häufig sich doch als wahr herausstellt, was man aus dem Fernsehen kennt: Ich bekomme, was von der Motte übrig geblieben ist, nur mühsam von meinen Fingern in das Plastiksackerl, in dem sich meine Fundstücke befinden. Als Aufschrift trägt es den Namen einer französischen Pralinensorte, auf dessen Buchstaben sich ein Schmetterling niedergelassen hat.
[…]
Hanno Millesi
Der Schmettleringstrieb
Roman
136 Seiten
Gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen
18 Euro | ISBN 978-3-903005-19-8
E-Book: 11,99 Euro | 978-3-903005-96-9