»Man mache Bekanntschaft mit einem klugen und einem eindrucksvollen Zeitroman.« (Hilde Spiel)
Dorothea Zeemanns Wien-Roman »Das Rapportbuch« ist genau beobachtet. Dieser »Rapport« ist dem gelebten Augenblick verpflichtet, einer entscheidenden Zäsur in der österreichischen Geschichte und Psyche. Die Jahreswende 1937/1938 durchleuchtet sie im Abstand von 20 Jahren erzählerisch raffiniert und eindringlich polyphon. Zeemann, die in Wien aufgewachsene und ausgebildete Krankenschwester, die Freundin Egon Friedells, der sich im März 1938 der Verhaftung durch die Nazis mit einem Sprung aus dem Fenster entzogen hatte, die Präsidentin des Österreichischen P.E.N.-Clubs, erweist sich in diesem Roman als Erzählerin von Rang, was durch ihre späteren autobiografischen, erotisch libertären Bücher und den Schatten ihres Geliebten Heimito von Doderer zu Unrecht etwas verdunkelt worden ist. (Geleitwort von Herausgeber Alexander Kluy)
Auszug aus »Das Rapportbuch« von Dorothea Zeemann (Wiener Literaturen Band 6)
I
Alle blickten auf Concha. Es waren zwanzig Personen in der langen Reihe der Visite, sechs Ärzte, vier Schwestern und zehn Studenten. Der Primarius, Professor Doktor Kurt Medler, stets (aus zwingenden Gründen seiner geringen und ihrer hohen Herkunft) eine Nasenlänge hinter Concha, der Oberin, zog nicht so sehr die Aufmerksamkeit auf sich als sie. Ihre Erscheinung putzte diese tägliche Zeremonie im Spital auf, war ein Labsal für die Kranken und ließ ihr selbst nicht die geringste Möglichkeit der Anonymität. Sie war über das Alter hinaus, wo ihr die achtungsvolle Beliebtheit Freude gemacht hatte. Es war die Beliebtheit eines Denkmals und hatte mit Concha selbst nur insoferne zu tun, als sie dadurch belästigt und von sich selbst entfernt wurde. Sich selbst entfremdet – oder verpflichtet, falls es das gab. Sich damit zu befassen zog einen Rattenschwanz von Problemen mit sich.
So war sie es, die das Tempo des Säle-Durchschreitens bestimmte. Man pflegte fast nur an den Betten der Neuankömmlinge zu halten hier oben, wo meist nur Gelähmte mit langwierigen Erkrankungen des Rückenmarks und des Nervensystems lagen. An Srdanov, zum Beispiel, ging man seit Monaten vorüber, ohne zu ihm hinzusehen. Er starb allmählich und langsam, weil sein starkes Herz im zerstörten Körper weiter pochte wie ein leerlaufender Motor. Nur Schwester Leni, die Letzte in der Reihe, blieb bei ihm stehen und befeuchtete die Lider um die starr glotzenden Augäpfel mit Wasser. Doktor Berg bemerkte das und zog die Mundwinkel hinunter. Auch Medler, der Primararzt, sah Leni zerstreut zu, nahm aber nicht wahr, was sie tat. Er fühlte ihre Rundungen, fast wie in seinen hohlen Händen – als eine wärmende Welle – kaum bewußt. Und der junge Doktor Weiner, aus Mitleid und Empörung zusammengesetzt, empfand Rührung über Lenis jungen Eifer. Concha dachte, daß sowohl Leni, die Helfende, als Srdanov, der Sterbende, sich in beneidenswerten Zuständen befänden. Sie sehnte sich schon jetzt, am Morgen, nach der kommenden Nacht.
Ein leise streichelnder kühler Lufthauch, ein tiefes Blau und ein dunkeltiefes Grün; und das Blau war Luft, in die sie tauchen konnte, und das Grün war Stoff, der sich angreifen ließ und der ihren tastenden Fingerspitzen schmeichelte. Sie dehnte ihren nackten Körper in dem schmeichelnden, stoffhaften, kühl-weichen Grün. Blätterfeuchte, Blätterfrische, Duft von Lindenblüten: ätherisches Öl! Der glitzernde Stern dort im schwärzlich durchscheinenden Blau blinzelt. Concha blinzelt zurück. Sie liegt auf einem Ast, aber der Ast ist nicht fühlbar. Vielleicht schwebt sie darüber, bewegungslos, weil sie ja nirgendwohin will, weil sie da bleiben will, wo sie ist. Sie ruht und lacht mit dem glitzernden Stern.
Da drückt nun mit einem Male, zuerst zart und kitzelnd, dann gröber und schließlich schmerzhaft, der Ast an Conchas Kreuzbein. Das ist ein Schmerz – das Bewußtwerden einer sehr fragwürdigen Sache: ein widerlicher Umstand versucht ihr klar werden zu lassen, daß sie träumt. Was für eine Taktlosigkeit, was für eine Gemeinheit! Sie will es nicht wissen.
Aber sie rutscht nun tatsächlich von diesem Ast ab, der qualvoll hart geworden ist, sie fällt langsam und sieht im Fallen grüne Wiesen mit hellen Blumen, die mit dunklen Wasseraugen abwechseln, in denen die Sterne sich spiegeln, in welche die Sterne stürzen, in die sie selber nun stürzt, in einen See hinunter, oh, so gerne hinunterstürzt, immer schneller, immer schneller, rasend vor Lust im Sturz. Sie wartet auf den Aufprall und auf das Versinken, aber eine koboldhafte Verwandlung prellt sie darum. Sie muß mit einem Male ihre Beine fühlen, ihrer Beine bewußt werden. Ihre Beine sind weit weg von ihr, aber schwer, so schwer, hängen sie an ihrem Leib. Sie ziehen sie weg vom Wasser, das ein See sein mag oder das Meer. Sie ziehen sie langsam und zäh in eine heiße schwellende weiche Hitze. Die Hitze kriecht über die Schenkel und höher hinauf, und die Schwere wuchtet mit der Hitze, und sie fühlt nun wieder ihren Körper und nur ihren Körper, nicht glücklich mehr über seine Leichtigkeit, sondern ungeduldig, weil er lastet, weil er hitzt und schwitzt und am Bettzeug klebt. Und der Kopf ist das Allerschwerste, und die brennenden Augen sind wie Löcher, aus denen sie verströmt. Die Augen gehen über, es rinnt über ihre Wangen, rinnt und rinnt, ohne daß sich ein Muskel in ihrem Gesicht bewegt. Concha wird wach, sie muß wach werden und erleben, was sich nun einstellt: das Widerlichste, Demütigendste, das, was sie am meisten haßt: Mitleid mit sich selbst!
Nein!
Im Protest beginnen die Pulse zu flattern, das Herz zum Halse herauszuklopfen und die Beine wieder fühllos zu werden. Sie muß den schweren Kopf heben, die fühllosen Beine aus dem Bett schieben, alle Willenskraft aufwenden, um auf die zitternden Knie auch noch sich selber zu ganzer Höhe aufzubauen. Nicht zur ganzen Höhe – sie kann gebeugt bleiben, sich am Bettrand weitertasten, sie ist ja ganz allein in ihrer Wohnung. Sie ist gottseidank mit ihrem Elend ganz allein, niemand kann sie belauschen, und sie kann sich gottseidank auch allein helfen.
Jetzt wird sie rasend ungeduldig. Der Weg bis zum Schrank im Nebenzimmer scheint weit und schwierig, weil sie ihn im Widerstreit mit sich selbst zurücklegt, und nun ist da noch die Notwendigkeit, auf einen Sessel zu steigen, denn sie hat voreilig die Schachtel oben auf dem Schrank versteckt, sie hat sie vor sich selbst versteckt, sie hat sie hinauf geworfen, und das Zeug ist ganz nach hinten gefallen. Zitternd steht sie endlich auf dem Stuhl, zum Glück ist sie hochgewachsen, und sieht sofort, daß nichts oben liegt, aber zwischen Schrank und Mauer ist ein Abstand, in diesen Spalt dürfte das Zeug gerutscht sein, und Concha muß wieder hinuntersteigen und sich ganz tief bücken, sich flach auf den Boden legen, um es hinter dem Schrank hervorzuholen. Vorher ist es nötig, zu verschnaufen, tief einzuatmen, und dabei kann sie es nicht vermeiden, daß ihr Blick in den blinkenden Schrankspiegel fällt. Fünfzig. Nein. Hundertjährig ist dieser wackelige Schädel mit dem blondgefärbten Haar. Ein Blond, dessen Aschfarbe ins Grau spielt. Sie ist ja keine Närrin, die sich eine leuchtende Farbe fälschen ließe, jetzt, da nichts mehr an ihr leuchtet, sondern alles am Veraschen, am Verblassen ist. Kunstvoll ist das Haar gefärbt, glänzend ist seine vornehme Farblosigkeit, glänzend, wie sie selbst, wenn sie ihre vier Wände verläßt und zu walten beginnt. Denn sie besitzt noch immer das Zeug, da, unter dem Kasten, das ihr in einigen Minuten das Aussehen einer kaum Vierzigjährigen wiedergeben wird. Das ist ihr geblieben, nachdem sie sich aus Verachtung vertrödelt und verloren hat, und – falls sie die landläufige Anschauung gelten läßt – dabei sich versäumte. Wenn es ihr elend geht, ist sie allein, und niemals wird sich jemand an ihren Niederlagen weiden. Sie spuckt auf den Spiegel und plumpst in die Knie. Das schmerzt, und das ist gut. Mögen ihre Glieder fühlen, daß sie untreu sind. Sie beugt den Kopf mit allem, was drin tobt, und sie visiert mühsam ganz hinten an der Wand die kleine Schachtel an. Ihr Arm reicht nicht dorthin. Sie legt den tosenden Kopf weinend in die Armbeuge und ist verzweifelt. Sie muß also nochmals auf die Beine und einen Gegenstand holen, der ihren Arm verlängern kann. Sie vermeidet die Anstrengung, sich aufzustellen, und kriecht auf allen Vieren zu dem kleinen, antiken Damenschreibtisch und hebt sich, die Brust an dem verzierten, kannelierten Holz hochschiebend, so weit, daß sie das Lineal zu fassen kriegt. Dann kriecht sie wieder zurück und erwischt geschickt, mit wütend zusammengebissenen Zähnen, im letzten Kraftaufwand, was sie braucht. Jetzt steht sie auf. Jetzt muß sie den Schwindel im Kopf, das Zittern der Finger und das Jagen des Pulses meistern. Die Spritze liegt in der Nachttischlade. Sie ist nicht gereinigt, und auch die Nadel steckt noch seit gestern dran. Ach, jetzt macht Concha keine Geschichten mehr, sie tastet auch nicht mehr lange nach einer Glassäge herum. Mit Daumen und Zeigefinger bricht sie der Ampulle, die sie aus der kleinen Schachtel nimmt, den Hals. Sie bemerkt nicht, daß sie sich dabei schneidet, und sie sieht den Blutstropfen nicht, der langsam aufquillt. Sie beißt sich die Unterlippe wund, bei der Anstrengung, das Zeug in die Spritze aufzuziehen, ohne etwas zu verschütten. Aufseufzend am Ziel, sticht sie langsam im wackeligen Stehen die Nadel ins Fleisch ihres Schenkels und drückt den Kolben nach.
Sie wirft die leere Spritze wieder in die Lade und läßt sich aufs Bett sinken. Für ein paar Minuten nur.
Dann geht sie aufrecht, gestrafft, hinaus in ihre sonnenhelle Küche und bereitet sich summend einen starken Kaffee, deckt genießerisch den rollenden Teetisch für sich allein und fährt ihn an ihr Bett. Ausruhend in die Polster gelehnt, trinkt sie, raucht dazu eine leichte Zigarette, das Bad genießt sie bereits in bester Stimmung. Wieder vor ihrem Spiegel, erfreut sie sich nun an ihrer Nacktheit. Die Haut ist frisch und elastisch, die Gestalt, straff, wohlproportioniert mit langen Beinen, hoher Brust, noch immer mit der natürlichen Furche der Taille und mit sichtbar ansetzenden Bauchmuskeln, hat die Eleganz eines Tieres, als hätte hier kein Widersacher gegen die Idee des Schöpfers gearbeitet. Sie ist sich immer selbst treu geblieben, niemals sauer geworden, immer böse geblieben: Concha. Sie zieht ein Seidenhemd an und läßt naserümpfend den blauen Kittel aus hartem Englisch-Leinen darüber gleiten. Sie nadelt die weiße, gesteifte Haube ans wohlfrisierte Haar und bindet die Schürze um.
Da steht sie dann: eine imponierende, reife Frau in der blau-weißen Tracht der weltlichen Krankenschwestern mit dem schweren Schlüsselbund der regierenden Oberin am Schürzenband. Ein stattlicher, ein schöner Mensch mit breitem Mund, breiten Backenknochen und einer geraden Nase mit starken Nüstern und feiner sichtbarer Scheidewand. Die rassige Oberschwester der Psychiatrischen Abteilung, Concha Maria Gräfin Monterossi, Mensch einer Zeit, die längst im Orkus versunken ist und vergessen hat, mitzureißen, was ihr angehört.
Conchas Wohnung lag im Hochparterre des Spitals über einem Vorbau, dessen Dach ihre Terrasse bildete, und bestand aus zwei Zimmern, Bad, Küche und Entree. Im Licht einer von Immergrün umrankten Fenstertür, die auf die Terrasse führte, dämmerte der Salon. Darin standen schwere, dunkle alte Möbel, Reste aus Familienbesitz, und bargen düsteren Kram: Pergamente, schweinslederne Schwarten, Musiknoten, Photoalben und sogar eine Kirchenfahne. An den Wänden hingen zwei riesige Bilder, auf denen blasse Gesichter in braunem Galerieton schwammen: Familienporträts. Hier empfing Concha mit Prätention. Im Schlafzimmer dagegen wohnte sie »légère«. Da gab es Chintz in Gelb und Rot und Grün als Vorhänge, Bettdecke und Sofabezug, einen weißen Teewagen, schwarze Fauteuils, graziöse Beleuchtungskörper, einen tomatenroten Knüpfteppich; und an den Wänden Reproduktionen von Picasso und Chirico, einen echten Dufy und ein paar banale italienische Aquarelle. Das alles fügte sich zueinander – wie dagegengesetzt wirkte ein wurmstichiges Betpult neben dem Bett vor einem verzückten barocken Schmerzensmann. Ein zerlesenes, ledergebundenes, goldgepreßtes Gebetbuch lag auf rotem, zerschlissenem Samt und forderte heraus. Wen? Concha? Besucher, die vertraut genug waren, diesen Raum betreten zu dürfen?
Als Concha die Flügel ihres Schlafzimmerfensters aufstieß, um zum Himmel aufzusehen, starrte sie über ihre Terrasse hinweg in das Gesicht des jungen Gastarztes Doktor Berg. Er stand am offenen Fenster des ärztlichen Dienstzimmers, das sich im Seitenflügel des weitläufigen Gebäudekomplexes befand – im rechten Winkel zu Conchas Wohnung – und solchermaßen ihre Terrasse überblickte.
Concha, an Begegnungen dieser Art gewöhnt, übersah geflissentlich den jungen Mann, der einen runden Rasierspiegel am Fensterrahmen hängen hatte und seine eingeseiften Wangen schabte. Er hielt eben die Zunge gegen die Wangenwand gepreßt, um diese glatt auszubuchten, und befand sich nicht in der richtigen Verfassung, die Nichtachtung seiner Oberin durch eine Verbeugung zu quittieren. Concha verschwand sogleich wieder vom Fenster, schaute aber, hinter ihrem Vorhang verborgen, weiter in den Garten hinaus und wußte, daß Berg in die gleiche Richtung spähte wie sie. Sie wußte, daß er mit seiner Rasur längst fertig war und nur am Fenster blieb, weil auch er Leni sehen wollte, die jetzt aus dem Schwesternzimmer herüber zur Psychiatrie gerannt kam und dabei die grünen Rasenecken übersprang.
Von weitem schon erblickten die beiden gleichzeitig die laufende, hüpfende Leni, und nur wenig später stand Berg im Tor und lugte in das dunkle hallende Stiegenhaus, das Leni bereits verschluckt zu haben schien. Concha trat, nach einem guten Eau de Cologne duftend, in den kahlsteinernen Gang hinaus und erkannte gegen das leuchtend grüne Viereck des Tores Bergs Umriß, nicht sein Gesicht. Er, Sonne in den Augen, sah nichts und witterte blinzelnd nach Leni herum. Concha ärgerte sich. Auch sie konnte Leni nirgends erblicken. So blieb sie spähend stehen, bis Bergs Augen sich der plötzlichen Dunkelheit angepaßt hatten und ihr Gesicht trafen. Im gegenseitigen Gruß blitzte Feindseligkeit auf. Sie sperrten den zur Freude bereiten Morgen aus sich aus und sahen wie hinter Glas hervor auf Leni, die sie nun entdeckten.
Leni, das kleine Mädchen, kaum als erwachsen zu bezeichnen, war dabei, hinter dem Torflügel ihre Strumpfhalter in Ordnung zu bringen. Ertappt, mußte sie darauf verzichten, in den zerdehnten Gummi einen Knopf zu machen, um den Strumpf zu straffen. Das labbrige, schlampige Gefühl eines rutschenden, schleiernden Gewebes auf der noch vom Duschen feuchten Haut ihrer Beine blieb, dieses Restgefühl des tiefen, dampfenden Kinderschlafs, der es unmöglich machte, je ganz in Ordnung zu kommen und vor Concha zu bestehen. Da bot sie nun ihren Guten Morgen mit verrutschtem Kragen, mit ungekämmt hinter die Haube gestecktem Gewirr auf dem Kopf – sich einer Unreife bewußt, die große Scham in ihr auslöste. Aber nur solange sie zu Concha aufblickte. Doktor Berg daneben bewirkte das Gegenteil in Leni: als ob die Strümpfe einsprängen, schrumpften und von selbst sich spannten, die Haut von selbst trocknete, auch die hinter den Ohren. Lenis Rückgrat straffte sich. Berg gegenüber geriet sie in schnippische Resolutheit, in eine Art koketten Verteidigungszustand – so daß sie, indem sie bescheiden hinter ihrer Vorgesetzten zurücktrat, ihm eine Grimasse schnitt. Doktor Berg übersah das, und sie schritten alle drei den langen Gang hinunter, Leni einen halben Schritt hinter der Oberin, an deren linker Seite sich Berg in förmlichem Abstand hielt. Vor der breiten zweiflügeligen Tür am Ende des Ganges blieben sie stehen. Leni griff nach dem Schlüssel, der ihr vom Schürzenbund baumelte, und öffnete. Sie ließ Concha vorantreten und sprang dann schnell hinter sie, Berg vor die Füße, um den Anspruch ihrer Weiblichkeit auf seine Umgangsformen geltend zu machen.
Nun standen sie in einem zweiten langen Gang zwischen einer Reihe vergitterter Fenster auf der einen und einer Reihe klinkenloser Türen auf der anderen Seite. Jeder der drei schloß mit seinem eigenen Steckschlüssel eine dieser Türen auf, um dahinter zu verschwinden – und gleich darauf wieder mit dem andern zusammenzutreffen im Dienstzimmer, in den Krankensälen, in den Zellen und Räumen der versperrten Abteilung der Psychiatrischen Klinik.
Die Sonne schien durch die vergitterten Fenster in den Krankensaal, und breite Schattenstreifen musterten das strahlende Weiß der Mauern und Möbel und der Krankenlager. In Schüben kam frische Luft aus dem Garten und wandelte sich zum Ruch der Reinlichkeit. Wenn auch aus manchem Bett neuerlich der Dunst vom Unrat aufstieg, so wurde das keineswegs zum herrschenden Eindruck. Das Wilde, das Böse, das Irre, das Chaos brodelte, bockte und randalierte in dumpfem Brausen und schrillem Aufschrei, es sah aus ratlosen Tieraugen und flackerte aus fahrigen Gesten, aber es blieb gebändigt. Vom triumphierenden Blitzen der geputzten Geräte, des spiegelnden, hellen Linoleumfußbodens, des schimmernden Lacks an den Wänden ging der Zwang der Ordnung aus. Innerhalb der Station standen zur besseren Übersicht und Kontrolle alle Türen weit offen. Leni arbeitete im Waschraum. Rings um sie war alles weiß gekachelt, die verchromten Wasserhähne und Abzugsdrücker blinkten im schwachen Licht, das durch die schmale Ventilationsklappe ganz oben, unter dem Plafond, hereindrang. Es roch stark nach Schmierseife und Lysol. Leni hielt eine triefende Bürste in der dampfenden roten Hand, und aus ihrem Herzen quoll das Weihrauchgefühl christlicher Demut. Sie wusch ekelerregendes Geschirr sauber und sang dazu laut.
Daneben im Dienstzimmer, zugleich Stationsküche, hörte Schwester Flora Lenis Gesang, und sie sagte zu Schwester Luzilla: »Solche wie die bleiben nicht bei uns.«
Schwester Luzilla, bereits außer Dienst, trug einen grünen Hut mit wippender Feder auf dem rotgefärbten Haar:
»Wieso? Ich bin auch einmal so gewesen.«
Darauf äußerte Flora einen deutlichen Laut des Zweifels. Flora hockte auf der unteren Plattform des Servierwagens und kratzte mit einem Blechlöffel die Reste des Patientenbreis aus der großen, gußeisernen Kasserolle. Es schmeckte ihr schon nicht mehr, sie hatte bereits genug, aber sie sah, wie Luzilla, die außer Haus wohnte und längst hätte gehen dürfen, dasaß und wartete, bis sie, Flora, endlich das Feld geräumt haben würde. Es lag noch eine Wurst herum, die keinen Herrn hatte.
Luzilla, auf ihrem Stuhl, hielt eine vollbepackte Tasche krampfhaft fest. Die Tasche quoll über, der dicke Bauch ließ ihr keinen Platz auf den kurzen Schenkeln. Der Bauch und die Tasche zogen Kleid und Mantel hinauf, und die Adernwülste auf Luzillas schwammigen Beinen kamen zum Vorschein.
Flora aß auch noch die Wurst zur Hälfte. Weiter konnte sie es nicht treiben, mehr brachte sie nicht hinunter. Beim Aufstehen stieß sie sich den Kopf an der oberen Plattform des Servierwagens an. Hart und knochig, ganz ohne Weichteile, so wirkte sie. Vom Kinn zu den Jochbogen spannte die Haut. Elle, Speiche und Handgelenke zeichneten sich grob ab, wie bei einem hageren Mann. Es tat ihr leid, daß sie Luzilla die halbe Wurst hatte überlassen müssen.
Doch war es nicht das allein, was Luzilla von ihr wollte.
Flora ging zum Medikamentenschrank, öffnete ihn mit einem kleinen Schlüssel, den sie bei sich trug wie jeweils die »Hauptdiensttuende«, und suchte kurzsichtig zusammen, was heute zu verteilen war. Sie steckte in die linke Schürzentasche Chinin, in die rechte leichte Beruhigungspillen und behielt ein Schälchen mit einer Dosis Digalen in der Hand für ein krankes Herz. Ab und zu hatte eine Irre ein solches. Ehe sie in den Saal trat, blieb sie vor Luzilla stehen: »Worauf warten Sie denn noch?«
Flora wußte, daß die Antwort nicht sogleich erfolgen würde; Luzilla konnte ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht so rasch in Worte fassen.
Im Saal lehnte Berg am langen Tisch, der die Bettreihen trennte, und las den Nachtrapport zu seiner Dienstübernahme. Patienten und Schwestern sahen ihm mit Wohlwollen zu. Er haßte dieses Wohlwollen. Er benahm sich schlecht, spielte den Herrischen, aber das nützte nichts. Alle diese Frauenzimmer machten ihn zum Knaben, ja, sie legten es darauf an, ihn zu blamieren. Irma schaukelte ihre Hüften und tanzte ihm vor der Nase herum. Sie brachte ihm die Tabellen von den Betten und trug sie wieder zurück. Jedesmal wenn so eine Tabelle von ihrer Hand in die seine wechselte, hielt sie diese ein wenig fest, zwang ihn, sie anzuschauen, ihre ungewaschene, schlafwarme, junge, blonde Aura in sich aufzunehmen. Irma kannte sich aus. Sie war eine Prostituierte, eine »Büchel-Hure«, noch jung und frisch. Der Beruf hat erst wenig Spuren hinterlassen, sie hat ihn aus Liebe zu einem Mann ausgeübt, und als dieser, der Liebste, der Beschützer, sie verriet, verlor sie den Verstand. Dem Doktor Berg hatte das imponiert. Er mochte das gern, wenn sich ein anderer Mensch an ein Gefühl verliert, deshalb war er auch gern hier im Irrenhaus. Er gab sich viel mit Irma ab, und so hielt sie ihn für ihren Retter. Denn sie war schon wieder ganz schön bei Trost und simulierte nur, weil sie nicht entlassen werden wollte. Sie half den Schwestern und machte sich nützlich und beliebt. Steif und licht standen ihr die blonden Locken um den Kopf wie ein Heiligenschein, wenn sie die zerwühlten Betten zurechtrichtete, ihre Leidensgefährtinnen kämmte und reinigte, Eisstückchen in kleine Lappen wickelte und den Fiebernden an die Stirn preßte.
»Na, Herr Doktor«, hieß es da, »wie wäre es mit unserer Irma?! Halten Sie sich dran, jetzt ist sie ja desinfiziert!«
Berg fand keine schlagfertige Antwort, denn die Butter auf seinem Kopfe schmolz und Irma grinste. Darüber lachte man laut in nahezu allen Betten. Eine Veitstanzkranke fiel in amüsierte Zuckungen, das weckte sogar die Malaria-Geimpften aus ihrer Fieber-Apathie. Leni brachte die gesäuberten Gefäße herein, und da sie im Grunde zwischen krank und gesund so wenig unterschied wie ein Kind – sie war es ja noch – fand sie die Situation sehr gemütlich.
Da betrat die Visite den Schauplatz. Der Chef und die Oberin, alle die Ärzte der Klinik und die Schar der Hospitanten und Studenten. Luzilla wollte sich Conchas Aufmerksamkeit entziehen, stellte sich hinter den Küchenschrank und herrschte Irma an, die zwischen der geöffneten Tür am Pfosten lehnte: »Verschwind’ hier, Narren haben in der Küche nichts zu suchen!«
Irma, die nur darauf gewartet hatte, wieder einmal als Närrin bezeichnet zu werden, quiekte grell auf, um die Blicke der Autoritäten auf sich zu lenken und ihren Irrsinn erneut unter Beweis zu stellen. Sie hob schnell ihren Unterrock und zeigte Luzilla das nackte Hinterteil. Das wirkte nicht häßlich, sondern hübsch und graziös, und der Chef lachte schallend. Das störte Doktor Weiner und machte Doktor Berg zornig. Oberschwester Concha sah kühl zu, und Doktor Medler, der Chef, von jeher auf Conchas unzeitgemäße Vornehmheit reagierend, lachte noch mehr – das war nun peinlich, wie ein falsch gespielter Ton. Er verwischte schnell den kurzen Eindruck seiner Niederlage, die er nicht ganz erfaßte, und wuchs aus dem Gedränge der Weißbemäntelten, vom Amt der Würde Heischenden heraus wie der Kristall aus der ihn umgebenden Lösung: ruhig, majestätisch, voll Freude an der eigenen, steilrückigen, breitbrüstigen Persönlichkeit, umwölkt vom Duft eines kostspieligen Rasierwassers, manikürt, gepflegt, sonor zelebrierte er seinen Auftritt auf der Bühne des weiten Krankensaales als die Inkarnation aller Weisheit, die aus Buchstaben und Präparat je gekeltert worden ist; und spielte mit Geschicklichkeit die Karten aus, die ihm die anderen in die Hand gegeben hatten.
Kein Wunder, daß Doktor Weiner ihn nicht mochte. Doktor Weiner war ein strenger Gelehrter: in der Wissenschaft und im Leben. Er verlangte vom Leiter einer Klinik Ehrfurcht vor der leidenden Menschheit und ein ernstes Gesicht. Medler jedoch gehörte zu den Leuten, die geliebt werden, weil sie heiter sind, glücklich, wendig und auch ein bißchen unverfroren. Er kurierte ohne grundlegende Methodik, mehr durch seinen Charme, der nicht gerade sublim war. Keineswegs spielte er den geschlechtslosen, überlegenen Arzt, wenn er die Frauenabteilung betrat und dort von Bett zu Bett zog. Seine Huld und sein Lächeln waren nuancenreich, nicht aber sein oft haarsträubend simpler Zuspruch.
Ertrugen Weiner und Berg diese Dinge nur schwer, so stärkte sich Luzilla an dem ganzen Aufzug ebenso wie die Patienten. Und als die weiße, würdige Prozession wieder verschwunden war, fand sie die Sprache und konnte formulieren, was sie Flora hatte fragen wollen; und zwar in Form einer Feststellung:
»Gestern war die Frau vom Chef im Haus!!!«
»Ja.« Flora ging sparsam um mit dem, was sie zu geben hatte.
»Warum?«
Es war ganz selbstverständlich, daß Flora wußte, was der Chef mit seiner Frau hinter verschlossenen Türen zu besprechen hatte. Es war ihr Stolz und ihre Macht, informiert zu sein, in einer Gegenwart, die das Verächtliche an solcher Macht gar nicht erkannte. Aus der untersten Sphäre baut das Leben. Es ist fatal, gering davon zu denken.
»Geld!« sagte Flora. »Wie immer!«
»Wieder wegen dem Auto?«
»Natürlich!« Flora piepste mit hoher Stimme. »Sie kann nicht warten, bis er geruht, ihr den Wagen zu überlassen. Sie muß einen eigenen kriegen – sie hat ja schließlich einen Anspruch darauf …«
»Aha! Die Mitgift!«
»Die muß er büßen. Immer noch. Er ist zum Schluß mit ihr weggegangen und nicht mehr wiedergekommen. Er hat beim Portier bestellt, daß er alle Telephongespräche nach Hause bekommt. Zum erstenmal seit achteinhalb Wochen hat er wieder einmal bei ihr geschlafen. Zu Hause und nicht oben in seinem Arbeitszimmer …«
»Ist das möglich! Sie hat ihn erpreßt?«
»So machen sie es, diese Hennen, diese Besen, mit nichts als kostspieligen Fahnen am Gerippe. Heute noch riecht der ganze Gang nach ihr. Pfui!«
»Kein Wunder, daß ihm da die Concha lieber ist …«, wagte Luzilla zu bemerken.
»Ach, reden Sie keinen Unsinn, Luzilla. Heut’ kann ihm auch die Concha gestohlen bleiben. Und er ihr schon immer. Sie hat ganz andere Sorgen. Ich weiß, was ich weiß.«
Flora ging in den Saal. Mehr packte sie nicht aus. Luzilla bekam es zubemessen. Sie nickte müde auf ihrem Stuhl. Es fiel ihr schwer, sich loszureißen. Hier war alles so interessant. Doch wenn sie einen Tag lang zu Hause war, ging es ihr dort genau so. Überall Pflichten, Gefühle, Interessen – ein zerrissenes Dasein, von dem einen trotz aller Neugier die Dumpfheit ausschloß. Flora hatte mehr vom Leben, obwohl sie doch weniger hatte, die alte Jungfer. Merkwürdig war das!
Vor dem Chefzimmer wartete ein langer junger Mann in einem hellen Anzug. Ein gepflegtes, blondes Bürscherl mit einem Frauenmund. Ein Patient? Luzilla kam das Gesicht so bekannt vor.
Es war bereits hoch am Vormittag. Luzilla war sehr müde. Zu Hause saßen ein heranwachsender Sohn und ihr Mann, die allerhand Bedürfnisse hatten. Luzilla mußte Gemüse einkaufen, kochen. Die halbe Wurst würde für den Buben reichen …
Seit dem Abkommen im Juli 1936, das Hitler mit Schuschnigg geschlossen hatte, rauchte der 26jährige Doktor Weiner vierzig Memphis-Zigaretten am Tag. Das war jetzt vierzehn Monate her. Um die Jahreswende rauchte Doktor Weiner etwas weniger, weil Optimisten glaubten, in Österreich könnte sich unter Mussolinis Fittichen die alte Monarchie restaurieren. Weiner war nicht für die Habsburger, aber wenn Habsburg Hitler fernzuhalten imstande war, so war ihm auch Habsburg recht. Mussolini schwankte jedoch, daß einem schwindlig werden konnte, und augenblicklich befand er sich auf einer Reise ins Deutsche Reich, nachdem er an der österreichischen Grenze in Kufstein eine Ehrenkompanie abgeschritten hatte, die für ihn gestellt worden war.
Weiner vertraute auf Mussolini. Nicht auf dessen Treue zu Deutschland oder zu Österreich, sondern auf dessen Raison.
Arzt war er geworden, der Weiner, weil ihn die Leiden der Menschen brannten, aber mit Politik sah er sich Tag und Nacht beschäftigt; denn das war die Krankheit, bei der es um Kopf und Kragen ging. Und doch gäbe er Kopf und Kragen dafür – ruhmlos und angstvoll, aber dennoch –, wenn er, was geschah, genau ermessen könnte nach Gewicht und Bedeutung und Zukunftsträchtigkeit. – Wenn ein Mensch wie er untergehen sollte, so sollte es so bewußt, so richtig wie möglich geschehen. Klar sehen! Er wollte klar sehen. Wenn schon im Malstrom, so doch nicht blind.
In einem wahrhaft infernalischen Zustand saß er im Krankensaal unter halben und ganzen Narren und nahm eine Anamnese auf. Die kranken Frauen hockten in ihren blauweißen Spitalkitteln neben ihren Betten, und ihm gegenüber die Alte, die er zu befragen hatte. Die anderen waren die Patienten, und er war der Doktor; und doch saß er ihnen gegenüber wie eine Schnecke ohne Haus oder wie eine Maus in der Falle. So wie die da aussahen, konnten sie alle noch Zeitungen lesen, legale oder illegale, und wußten trotz ihrer verrückten Zustände ganz gut, daß er zu den Hasen gehörte und sie zu den Hunden. Selbst wenn er sich’s nur einbildete, daß sie es wüßten und bedächten, machte das seine Arbeit schwer. Er bildete es sich aber nicht nur ein. …
Dorothea Zeemann
Das Rapportbuch
Roman
WIENER LITERATUREN, Bd. 6
Herausgegeben von Alexander Kluy
256 Seiten
21,95 Euro
ISBN 978-3-902498-90-8
Die Reihe WIENER LITERATUREN setzt sich zum Ziel, Literatur aus Wien, über Wien, von Wiener Autorinnen und Autoren, aber auch Blicke von außen auf die Stadt zu präsentieren. In dieser Reihe erscheint Ungewöhnliches und Zeitenüberdauerndes: souverän eigensinnige Texte, die die Grenzen zwischen erzählender, feuilletonistischer und analytischer Prosa leichthändig ignorieren, dem gelebten Augenblick durch genaue Beobachtung Gehalt und Sinn, Witz und Leben verleihen – und urbane Eleganz.
Eine Besprechung zum Buch finden Sie hier » Spinnen, bis der Hitler kommt. Über Dorothea Zeemanns Roman Das Rapportbuch (von Martin Thomas Pesl)