von Andreas Pavlic
Geschichte als Historie in einem Roman zu erzählen, bringt spezifische Herausforderungen mit sich. Beim Schreiben meines Romans Die Erinnerten, der sich nicht nur mit Erinnerung, Verdrängung und Zeugnis-Ablegen beschäftigt, sondern auch mit konkreten Ereignissen und Situationen in der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus, wurde ich mit diesen Herausforderungen konfrontiert und versuchte sie schrittweise zu lösen. Das Buch beginnt mit der Höttinger Saalschlacht im Jahre 1932, also vor der Ausschaltung des Parlaments durch Dollfuß, und endet mit der Selbstbefreiung von Innsbruck im April 1945. Den Handlungsort Innsbruck wählte ich ob seiner Vertrautheit, auch was die Historie betrifft, selbst wenn diese mehr als lückenhaft war und ist. Meine Annahme war, dass ich lokale Ausprägungen eines Herrschaftsregimes hier gut zeigen und schildern könne. In der Folge ging es mir darum, mich auf ein Wechselspiel von globaler bzw. nationaler und lokaler bzw. regionaler Geschichte einzulassen. Was mich in diesem Zusammenhang beschäftigte, waren zwei Fragen:
Wie historisch genau möchte ich arbeiten und wie viel Fiktion möchte oder muss ich einfließen lassen? Und: Was kann ich über diese Zeit wissen und welche Quellen gibt es?
Die verschiedenen historischen Wissensbestände
Für diesen Roman habe ich mich zunächst an zwei verschiedenen Wissensbeständen abgearbeitet. Bei dem ersten handelt es sich um geschichtswissenschaftliche Aufarbeitungen, die harte Fakten und Daten beinhalten – Namen, Datum und Ort benennen können, meist mit einer Fülle an Dokumenten und Tabellen ausgestattet sind, politische Ereignisse schildern, soziale Zusammenhänge erklären und ideologische Vorstellungen analysieren. Mit diesem Material baute ich mir einen historischen Rahmen. Um die Lokalität besser in den Blick zu bekommen, konzentrierte ich mich nicht auf die großen Ereignisse wie den Anschluss 1938 und den Kriegsbeginn 1939, sondern suchte nach den lokalen Besonderheiten, die teilweise – wie der von mir geschilderte Schützen- und Blasmusikumzug beim »Landesschießen 1939« – eine wichtige Funktion und große Bedeutung in diesem Raum hatten. Das Kriegsende 1945, das den Abschluss des Erzählteils bildet, ist in diesem Zusammenhang eine Ausnahme. Jedoch ist dieses Ereignis und somit auch die Geschichte des Widerstands in Tirol/Innsbruck und die Selbstbefreiung der Stadt Innsbruck wenig bekannt oder stark verklärt.
Dieser historische Teil des Romans, so mein Ansatz, sollte sich so gut wie möglich an den Fakten orientieren. Jedoch ein Roman ist kein historisches Sachbuch. Er lebt von Handlung, Dialog und Beschreibungen, kurz: er benötigt Fiktion. Zumindest war es mir wichtig, die Geschichte so lebendig wie möglich auszugestalten. Um dies schreiben zu können, war es für mich notwendig, andere Wissensbestände anzuzapfen, um tiefer in die damalige Lebenswelt eintauchen zu können. Ich fand diese in Tagebuchaufzeichnungen, Zeitzeugenberichten, in den Büchern zur Stadtgeschichte in Wort und Bild, in Fotos und Karten aus dieser Zeit, und so bekam ich langsam ein Gefühl für die Lebensrealität, die Geografie und die kleinen, vergessenen Ereignisse, die einen Alltag begleiten und ausstaffieren und damals vielleicht den Gesprächsstoff kurzer Begegnungen und Plaudereien lieferten.
Neue Einsichten aus alten Zeitungen
Eine unerschöpfliche Fundgrube für diese Art von Informationen sind Zeitungen. Wer etwas über diese Zeit verstehen möchte, braucht sich nur die Zeitungen anzusehen, würde ich fast programmatisch behaupten. In meinem Fall waren es zu einem überwiegenden Teil die Innsbrucker Nachrichten, über die ich mich im Innsbrucker Stadtarchiv für ein paar Tage beugte und eintauchte. Als eine der ältesten Zeitungen von Innsbruck galt sie im 19. Jahrhundert als demokratisches Blatt weder als konservativ noch liberal, dafür unterhaltsam, wandelte sich um die Jahrhundertwende inhaltlich und vertrat deutschnationale, reaktionäre und antisozialistische Positionen und wurde ab 1938 die dominierende Zeitung im Gau Tirol-Vorarlberg. Nach dem 2. Weltkrieg entstand aus dem belasteten NS-Blatt, nach einer Neugründung, die heute noch dominierende, konservative Tiroler Tageszeitung.
Was mich jedoch beim Lesen der Zeitung immer wieder überraschte, war, wie offen und klar die nationalsozialistische Ideologie und Politik zum Vorschein tritt. Ein paar kurze Einblicke dazu:
Im Jahresrückblick von 1938 wird angekündigt, den Hass gegen den Nationalsozialismus mit Stumpf und Stiel auszurotten, auf der nächsten Seite, preist der neue Rektor in einem weiteren Artikel den nationalsozialistischen Umbau der Universität, und unter der Überschrift »Mit dem Führer vorwärts im neuen Jahr« ist die mentale Kriegsvorbereitung bereits voll im Gang. Von Interesse waren für mich auch die Stelleninserate, die Firmenreklamen und diverse Aufforderungen der Partei. Unübersehbar waren die permanenten und penetranten Lobpreisungen der nationalsozialistischen Führung und ihrer Organisationen. Ab 1939 beginnen die Kriegsberichte immer mehr Platz einzunehmen, bis sie schließlich dominieren und selbst nach 1943 vornehmlich Siegesmeldungen beinhalten. Zu finden waren Skurrilitäten, wie ein Aufruf zur Schädlingsbekämpfung im höchst militärischen Tonfall, aber auch banale Fußballergebnisse, dazwischen wüste antisemitische Angriffe und wahnwitzige ideologische Ausführungen zur Rassenfrage und auch gewöhnliche Lokalnachrichten. Im Winter 1943 wird in einer Meldung über die Hinrichtung von Zwangsarbeitern berichtet, die bei Aufräumarbeiten nach dem ersten Bombenangriff Marmelade »gestohlen« hätten. Ganz klar und selbstverständlich wird Tag für Tag der Wahnsinn zur Normalität verklärt.
Zeitungen liefern stets drei Informationen, und das bis heute: Was wird berichtet, wie wird berichtet und was wird verschwiegen. Für den Roman waren mir die ersten beiden Informationen ungemein wichtig, um Nähe, eine Räumlichkeit und Alltäglichkeit herstellen zu können. Die Fiktion baut somit auf diese Zeitungsnachrichten auf und nimmt sie als ihren Ausgangspunkt. Durch diese kleinen und großen Ereignisse bewegen sich die Figuren, die sowohl auf historisch reale Personen verweisen als auch rein fiktiv sind.
Die Akteure der Geschichte haben Gesichter und Namen
Der Journalist und Schriftsteller Wolfgang Purtscheller, dem dieser Roman gewidmet ist, hat in seinen Büchern und Gesprächen immer wieder drauf hingewiesen, dass die neuen Akteure des Nationalsozialismus Namen und Adressen haben. Und je aktiver sie sind, desto mehr scheuen sie das Licht. Daher sah er es als seine Aufgabe, die Scheinwerfer der Öffentlichkeit auf sie zu richten. Das dies nicht ungefährlich ist, darüber wusste er auch zu berichten. Im Roman werden einige der historischen Akteure benannt, zumindest mit Vornamen und ihrer Institution. Der Geschichte sollte dadurch ein Gesicht gegeben werden. Aber auch jene Personen, die gegen Faschismus und Nationalsozialismus aktiv und im Widerstand waren, sind in diesem Roman als historische »Figuren« Teil der Geschichte. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands bemüht sich seit Jahrzehnten darum, die Geschichte dieser Menschen und ihrer Organisationen aufzuarbeiten und sichtbar zu machen. Diese Quellen waren ebenfalls unverzichtbar für mich. Ein Gespräch mit dem Enkel von zwei überlebenden Widerstandskämpfer:innen, einem Ehepaar, das als Vorlage für zwei Romanfiguren diente, gab einen sehr persönlichen Einblick in ihre Lebenswelt und Biografie. Als wir im Kaffeehaus saßen und ich zuhörte, wurde mir noch etwas anderes deutlich. Diese Erinnerungen müssen erzählt werden. Es ist wichtig, Geschichte und Geschichten weiterzuerzählen, da die Menschen sowohl Produkt als auch Produzent ihrer sind und wir uns bewusst sein müssen, dass wir mitbestimmen, wie die Geschichte geschrieben wird. Die Erinnerten ist diesbezüglich ein Ausdruck davon.